Das Mädchen, der Terror und die Zuckerstückchen

Wie sich das Attentat bei den Olympischen Spielen 1972 und die Geschichte einer Frau nicht durchdringen lassen: Ulrike Draesners ambitioniert-überladener Roman „Spiele“

Ulrike Draesners Sprache ist reich, lyrisch, ein kommareiches SatzstakkatoIn „Spiele“ stehen manchmal zu penetrant Siebzigerjahre-Requisiten herum

Man hätte es nicht gedacht nach dem jüngsten Erinnerungsfuror in der deutschen Gegenwartsliteratur, nach der Recherche über die Naziverstrickungen der Großeltern, nach der 68er-und-Deutscher-Herbst-Aufarbeitung, nach den vielen Wende- und Berlinromanen: Es gibt in der jüngeren deutschen Geschichte noch immer weiße Flecken und unerzähltes Terrain.

So wie die Olympischen Spiele in München 1972, derer sich eben nicht nur Steven Spielberg demnächst mit einem Film annimmt, sondern auch die Berliner Schriftstellerin Ulrike Draesner mit ihrem neuen Roman „Spiele“. Diese Spiele sollten als die „heiteren“ in Erinnerung bleiben, wurden am 5. September 1972 aber durch das Geiseldrama im Olympischen Dorf und den Tod von elf israelischen Sportlern und fünf palästinensischen Terroristen zu einem Albtraum. Inzwischen gelten die Münchener Spiele als die Wiege des Terrorismus, wie wir ihn heute kennen und wie er sich seit dem 11. 9. 2001 tiefer in unser kollektives Gedächtnis eingegraben hat als es München oder der RAF-Terrorismus je vermochten. Ulrike Draesner ist es nun nicht an engen Parallelen oder einem Terrorismusroman gelegen, ihr reicht da ein Zitat von Willi Daume bei der 72er-Abschlussfeier: „In einigen Monaten, in ein paar Jahren, ja vielleicht erst in Jahrzehnten wird man sagen, dass München ein zeitgeschichtliches Ereignis war, das mit seiner ganzen Tragik, seiner Wirrnis und der Unreife die Probleme deutlich gemacht hat, mit denen wir in dieser Welt von heute leben müssen.“ Wie wahr.

Vielmehr erzählt Draesner in ihrem Roman private Geschichte vor dem Hintergrund eines historischen Ereignisses, sie möchte zeigen, wie eine ihrer Figuren sagt, dass sich „die große und kleine Geschichte nicht umeinander kümmern, sie durchdringen sich bloß“. Diese Durchdringung steht auf dem Masterplan von „Spiele“, diese arg konstruierte Durchdringung aber lässt diesen ambitionierten Roman auch scheitern.

Hauptfigur von „Spiele“ ist die Mittvierzigerin Katja, eine Fotojournalistin, die sich zum einen der Schuldabtragung halber in die Spur ihrer Vergangenheit setzt, zum anderen die Ereignisse der schwarzen Münchener Septembertage zu rekonstruieren versucht. Sie begibt sich an die Schnittstelle, an der sie vom Kind zur Frau wurde, als sie als 13-Jährige Olympia in München erlebt. In dieser Zeit lädt sie Schuld auf sich, weil sie ihren Freund Max auf einer Party lächerlich macht, und sie muss zudem damit klarkommen, dass ihr Vater Edgar nach dem Unfalltod ihrer Mutter eine neue Frau kennen lernt. Max wiederum wird nach dem Vorfall bei der Party Polizist – der Schuldgefühle Katjas zweiter Teil –, und einer seiner Einsätze führt ihn auf das Flugfeld, von dem die Entführer flüchten wollen. Bei der verunglückten Geiselbefreiung erhält er einen Schuss ins Bein, der ihn zum Krüppel macht: „Max zuckend auch in seinem Schatten, groß und vom Feuer verzerrt auf den Boden geworfen, ein Flackern, noch eines, noch eines, über Patronenhülsen, Löschschaum und Blut hinweg.“

Man merkt schon an diesem Zitat, wie aufgeladen Draesners Sprache ist, wie reich, wie lyrisch, ein kommareiches Satzstakkato, dass sich nachhaltig in den Kopf des Lesers fräst. In Vor- und Rückblenden und manchmal übergangslos stattfindenden Perspektivwechseln erzählt „Spiele“ die Geschichte Katjas, die sich zu allem Überfluss noch romantragend verliebt und die auch weiterhin wacker an ihrer emanzipatorischen Befreiung arbeitet. Draesner gelingen dabei eindringliche Szenen, schön weiß sie besonders die Vergangenheit heraufzubeschwören, auch wenn in ihrem Text manchmal zu penetrant Siebzigerjahre-Requisiten herumstehen. Doch bei all dem sprachlichen Vermögen verknäult sie ihre große und kleine Geschichte irgendwann entweder zu fest oder verliert die Fäden gänzlich aus den Augen.

Schon bald weiß man nicht mehr, was Katja da alles sucht, und vor allem, warum. Ihr Begehren und ihre Motivation werden zunehmend nebulöser, zumal Katja selbst viel zu gut um das Konstrukt der Parallelisierung der Münchener Tragödie mit ihrem Erwachsenwerden weiß. So lappt das Ganze nach gut der Hälfte in eine Art Politkrimi plus Liebesgeschichte aus, angereichert und überladen mit Sequenzen wie der über den Busfahrer, der Geiselnehmer und Geiseln zum Flughafen fährt, oder Katjas Zuckerstückchen sammelnden Großvater, einen schlesischen Vertriebenen, der den historischen Raum noch weiter öffnen soll. Immerhin bekommt Draesner noch den Dreh in ihrer Erzählspirale, als sie Katja am Ende erkennen lässt, dass Berühren und Durchdringen irgendwie miteinander zu tun haben: „Ob Durchdringen Berührung voraussetzte? Ob Berühren Durchdringung ausschloss?“

Nur freut man sich da bei so viel aufdringlicher Durchdringung schon allein darüber, dass Katja/Draesner noch Sinn für die Dinge hat, die sich nie ändern: „Die Straße war vollkommen leer, die Kanten der Häuser ragten mit präzisen Ecken aus sich selbst hervor.“ GERRIT BARTELS

Ulrike Draesner: „Spiele“. Luchterhand, München 2005, 490 Seiten, 21,90 €