Krümmel-Monster wächst

Das pannenträchtige AKW an der Elbe wird zum größten Siedewasserreaktor Deutschlands – über die Risiken wird kaum noch diskutiert. Dabei häufen sich in der Umgebung die Fälle von Leukämie

Die Spur führte jedoch nicht ins Atomkraftwerk, sondern ins Forschungszentrum GKSS

Von Reimar Paul

Nach zweimonatiger Revision ist das umstrittene Atomkraftwerk Krümmel an der Elbe wieder angefahren worden – mit erhöhter elektrischer Leistung. Augetauscht wurden nicht nur 100 der rund 850 Brennelemente im Reaktor, sondern auch die Hochdruckturbine sowie zwei der drei Niederdruckturbinen. Die Leistung wurde so um 50.000 Kilowatt gesteigert, teilte der Betreiber, die Vattenfall Europe Nuclear Power Gesellschaft, mit.

Eine weitere neue Turbine wird im nächsten Jahr eingebaut, das soll noch einmal 17.000 Kilowatt mehr bringen. Die Gesamtleistung des AKW beträgt dann 1.383 Megawatt – damit wäre Krümmel der größte Siedewasserreaktor Deutschlands. Seine im Atomkonsens zugestandene „Reststrommenge“ von 158 Milliarden Kilowattstunden wird der Meiler nun wohl früher als geplant erzeugt haben. Ob das Kraftwerk auch vor 2017 vom Netz geht, steht wegen der unklaren künftigen Energiepolitik in den Sternen.

Der Ausbau ging weitgehend unbeachtet über die Bühne. Dem schleswig-holsteinischen Sozialministerium als zuständiger Aufsichtsbehörde war die Kapazitätserweiterung nur einen einzigen Satz in einer Pressemitteilung wert. Im vergangenen Jahr, als Vattenfall den Einbau der stärkeren Turbinen beantragte, hatte sich Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) von dem Vorhaben noch wenig begeistert gezeigt und eine genaue Prüfung angekündigt.

Zweifel an der Sicherheit des Atomkraftwerks Krümmel gibt es schon lange. Bereits in der Bauphase Ende der 1970er Jahre kritisierten Fachleute, der zu hohe Kupferanteil im Reaktorstahl begünstige eine schnelle Versprödung. Bei plötzlichen Druck- und Temperaturschwankungen infolge eines Störfalls könnte der Reaktordruckbehälter platzen. Prüfer des TÜV stellten laut „Spiegel“ an den Schweißnähten „zahlreiche Anzeigen“ fest, die als „systematische Fehler angesehen werden mussten“.

Bei der Montage der Stahlplatten für das Reaktordruckgefäß gab es weitere Probleme. Die aus Mailand angelieferten Elemente passten nicht richtig zusammen. Mit hydraulischen Pressen wurden die Teile auseinander gedrückt und auf die passenden Maße zurechtgebogen. Bereits verlegte Rohrleitungen mussten wegen zu spät erkannter gravierender Materialfehler wieder herausgerissen und durch neue Leitungen ersetzt werden.

Seit 15 Jahren häufen sich in der Elbmarsch Fälle einer lebensbedrohlichen Krankheit. 15 Kinder haben in diesem Zeitraum Leukämie bekommen, das bislang letzte erkrankte im vergangenen Jahr. Im Fünf-Kilometer-Umkreis um das AKW und das benachbarte Forschungszentrum GKSS gab es mehr Fälle als statistisch zu erwarten waren. Drei der jungen Blutkrebspatienten sind gestorben.

Ob dafür Radioaktivität aus dem 1984 in Betrieb genommenen AKW verantwortlich gemacht werden kann, ist umstritten. Zwar folgten um 1990 die Neuerkrankungen besonders dicht aufeinander, fünf Jungen und Mädchen traf es innerhalb eines Jahres. Und vier bis acht Jahre beträgt bei Leukämie die Latenzzeit, also die Zeitspanne bis zum Auftreten erkennbarer Symptome. Ein Indiz allenfalls, kein Beweis, wie auch Atomgegner einräumen.

Einige Forscher glauben mehr zu wissen. Sie fanden nach eigenen Angaben in der Umgebung Kügelchen aus verschiedenen radioaktiven Spaltprodukten (Plutonium, Americium, Curium). Die Spur führte jedoch nicht ins Atomkraftwerk, sondern in das Forschungszentrum GKSS.

Nach Recherchen des Berliner Physikers Sebastian Pflugbeil wurde dort in den 80er Jahren die Idee einer „Atombombe in der Aktentasche“ diskutiert. In eine Eiform aus Keramik eingeschlossen, kann eine millimeterkleine Perle aus Plutonium mit einem Laserimpuls so hoch verdichtet werden, dass es zu einer Art Mini-Atombombenexplosion kommt. Dabei werden Energien freigesetzt, die 500 bis 1.000 Kilogramm TNT-Sprengstoff entsprechen. Solche Experimente, so Pflugbeil und der Münchner Strahlenmediziner Edmund Lengfelder, seien damals in der GKSS gemacht worden. Das Forschungszentrum und die Kieler Landesregierung bestreiten die Vorwürfe.

Im vergangenen Jahr löste sich die Expertenkommission des Landes Schleswig-Holstein auf, die seit 1992 die Ursache der Leukämiefälle untersuchte. Der Vorsitzende Professor Otmar Wassermann und fünf weitere wissenschaftliche Mitglieder der achtköpfigen Kommission erklärten aus „Protest gegen die Verschleierungspolitik der schleswig-holsteinischen Aufsichtsbehörde“ ihren Rücktritt.