Willkommen in der Postmoderne

Michael Thalheimer präpariert am Deutschen Theater aus „Faust II“ geschickt das modernekritische Potenzial heraus

Thalheimers Verschlankung freut. Kaum jemand vermisst singende Olivenzweige und Ährenkränze, Gärtnertruppen, Grazien und Holzhauer

Der Autor scheint doch ein sehr kluger Mann gewesen zu sein: Aus Goethes „Faust. Der Tragödie zweiter Teil“ wird in der Inszenierung von Michael Thalheimer am Deutschen Theater in Berlin ein ziemlich prophetisches Stück über das Scheitern des Fortschritts. Erzählte „Faust I“ noch die Geschichte eines Individuums, ist in „Faust II“ die Historie selbst zum eigentlichen Gegenstand geworden: Wild springt das Stück zwischen Schauplätzen und Epochen – und führt vor, wie in jedem historischen Zeitabschnitt ein groß angelegtes Projekt der Moderne misslingt.

Konzentriert auf die Punkte, die auch heute noch dem Diskurs zu schaffen machen, lässt Thalheimer sein großartiges Ensemble spielen und versucht gar nicht erst, die Figuren auch mit einer biografischen Plausibilität auszustatten. Ebenso wenig illustriert die Aufführung, wo und wann man sich befindet. Die Bühne aus schwarzen Blöcken und weißem Licht von Olaf Altmann bestimmt jeweils nur die Ausschnittsgröße, in der wir etwas sehen; aber ob wir uns gerade im Mittelalter, in vorchristlicher Antike oder von Faust aus gedacht in einer Zukunft befinden, die unserer Gegenwart sehr ähnelt, lässt sich nur über das Was und Wie der Rede erschließen. Die Sätze klirren kalt in diesem abstrakten Ambiente.

Mal sind Faust und Mephisto die Anstifter und Verführer, mal bloße Beobachter, mal gar Opfer der Entwicklungen. Das Papiergeld und die Spekulation mit Bodenschätzen wird im ersten Akt erfunden: ein großes Bubenstück Mephistos, um sich einen Kaiser hörig zu machen. Ein Homunculus wird im zweiten Akt geschaffen und wendet sich gegen seinen Schöpfer. Die schöne Helena tritt im dritten Akt als der Literatur entlehnte Kunstfigur auf. Sie schimpft und rast nur so vor Wut über die Dummheit der Männer, die von ihrer Schönheit keinen anderen Gebrauch zu machen wissen, als ihre Kriege damit zu begründen. Am Ende ist auch Faust so weit, dass ihn nur noch die Macht interessiert: Land will er dem Meer abgewinnen – um jeden Preis. In seinem Größenwahn merkt er nicht mehr, dass die Schaufeln, die er klirren hört, nicht das Meer trocken legen, sondern sein Grab ausheben.

Äußerst sparsam geht Thalheimer mit Bewegungen im Raum um. Jede ist hochgradig mit Bedeutung besetzt. Starr und eng gedrängt steht am Anfang der Hof des Kaisers, in einem quadratischen Ausschnitt in der schwarzen Wand: Es ist die Starrheit ihrer Ordnung, ihr Abgeschiedensein von allen Sinnen und aller Erfahrung, die sie so leicht Mephistos Künsten erliegen lassen. Drei Akte später öffnet sich die Wand und nur ein schwarzer Block bleibt, auf dem Faust wie sein eigenes Denkmal in einer grellen Weite steht. Die Leere um sich herum kann er nicht mehr füllen.

Der Faust, wie ihn Ingo Hülsmann spielt, scheint dabei die ganze Zeit zu ahnen, dass er selbst für sein Unglück verantwortlich ist. Aber nicht seinen inneren Kämpfen, die man wohl in diesem Körper toben fühlt, gilt das Hauptaugenmerk der Inszenierung, sondern der Erfüllung einer Logik, die das einmal in Gang gesetzte System verlangt. Je größer die Stelle, die Faust einnehmen will, desto mehr schrumpft Mephisto. Sven Lehmann zappelt in dieser Rolle am Bühnenrand wie ein Drogensüchtiger. Fast bedauert man ihn mehr als Faust – und er selbst tut es auch. Das liegt nicht nur daran, dass seine Reise mit Faust durch mythologische Gelände führt, in denen ein Teufel keine Rolle spielt. Sondern mehr noch trägt zu seiner nervösen Demontage bei, dass die Inszenierung nicht mehr an die Instanz des Bösen glaubt und jeder Verteufelung ein pragmatisches Interesse unterschiebt.

Nina Hoss hat als schöne Helena einen der stärksten Auftritte ihrer Theatergeschichte, blickt sie doch hinter die Konstruktion jener Femme fatale, als die sie sonst so oft eingesetzt wird. Wie eine Schiffbrüchige, die nur ein zäher Überlebenswillen all die Idolisierungen überstehen ließ, die ihr angetragen wurden, steht sie da: den Kopf gebeugt, den Lippenstift verschmiert, die Füße fest in den Boden gestemmt. Was an Sprache und Zorn aus ihr herausbricht wie Lava aus einem heißen Vulkan, reicht für mehr als ein Leben.

Was diese konzentrierte Aufführung vergessen lässt, ist die Überschreitung der Form und die Überforderung des Lesers/Zuschauers, die der Text zu jeder Zeit darstellte. Thalheimers Strichfassung unterschlägt, dass das Stück eigentlich eine Zumutung ist, eine eklektizistische Collage, zugeschüttet mit mythologischen und allegorischen Figuren, die den Text ohne Nachschlagewerk fast unverständlich machen. Die Verschlankung freut einen zwar eigentlich – kaum jemand vermisst wirklich singende Olivenzweige und Ährenkränze, Truppen von Gärtnern und Holzhauern, Grazien und Parzen, Doriden und Sirenen. Jedoch entgeht man so auch der Frage, wozu der Autor diesen ganzen pompösen Aufwand brauchte. Was trieb ihn, den Klassiker, zu dieser barocken Protzerei? Warum versteckte er seinen Skeptizismus gegenüber der Moderne in historisierendem Gerümpel?

Kurz: Im Spätwerk Goethes brach etwas auseinander, was in der Balance zu halten ihm doch lange gut gelungen war. Der Boden unter dem Autor schwankte nicht weniger als der unter seinem verunsicherten Mephisto. Deswegen bietet „Faust II“ keine einheitliche Lesart mehr. Thalheimer jedoch gibt dem Stück eine solche zurück: Eindeutig ist nun das Scheitern. Damit macht der Regisseur Goethe besser, als er eigentlich ist.

KATRIN BETTINA MÜLLER