Auf der Reise

Der Stolz der Flüchtlinge: Wer hinschaut, kann in Ceuta und Melilla Bilder von selbstbewussten Migranten sehen

Sie stürmen den Grenzzaun zeitgleich an mehreren Stellen, fordern Spaniens Grenzspezialisten zum offenen Wettrennen heraus und legen den Zeitpunkt mitunter so, dass er mit dem Besuch von spanischen Politikern zusammenfällt. In Ceuta und Melilla, den beiden spanischen Exklaven in Marokko, erinnern die Grenzüberschreitungen immer öfter an politische Aktionen, an direkt geforderte Auseinandersetzungen. Und immer massiver und entschiedener rücken sich die Akteure selbst ins Bild.

Das ist ungewöhnlich. Bittsteller, die sich als Akteure begreifen? Diese Bilder weichen ab von den bisher gewohnten, auf denen sie als zusammengepferchte Gestalten in Fußballstadien oder in von der Grenzpolizei ins Tau genommenen Booten gezeigt werden. Möglicherweise greifen sie demnächst selbst zum Mikrofon, wenn sie den Übertritt geschafft haben? Ungefragt – und gegen ein stillschweigendes Gesetz aufbegehrend, das sie auf die passive Rolle des Bedürftigen festgelegt hat.

Über den Flüchtling wird geurteilt, gesprochen, entschieden, kaum je wird er befragt oder am Diskurs über ihn selbst beteiligt. Die Symbollage beschränkt ihn auf den Status eines Nackten. Er ist nackt, sobald er seine Reise antritt. Nackt, durch die Tatsache, dass er sie antritt. Da er sie antritt, hat er nichts zu verlieren. Und da er nichts zu verlieren hat, wird billigend in Kauf genommen, dass er bereits tot ist. Der Flüchtling wird stets als einer auf ein Unglück Reagierender wahrgenommen, niemals als jemand, der sein Geschick selbst in die Hand genommen hat.

Doch Befragte sprechen von anderen Dingen: von dem eigenen oder dem ausdrücklichen Wunsch der Eltern, ein ordentliches Gymnasium aufzusuchen oder eine Universität. Und sie wählen eine weitaus aktivere Seelenlage, als ihnen gemeinhin zugesprochen wird. „Stolz, einfach nur Stolz“, das empfand der 23-jährige Benadou Njibie (taz, 8. 10.), nachdem er es nach fünf Jahren Irrfahrt geschafft hatte, europäischen Boden zu betreten. Auch Khelafir, ein junger, illegal in Sizilien lebender Algerier nennt genaue Absichten: eine Arbeitsstelle, die ihn in seinem Beruf als Ingenieur weiterbringt, bis hin zu einer Position, die es ihm später ermöglicht, in Algerien eine eigene Firma zu gründen. Hinter seinen Plänen geben sich bürgerliche Vorstellungen zu erkennen, die den unseren sehr ähnlich sind. Und sie beschreiben eine Person, die sich der Gestaltbarkeit der eigenen Existenz bewusst ist.

Möglicherweise liegt hier ein Schlüssel für die Genügsamkeit europäischer Neugierde, wenn es um Flüchtlinge geht. Denn sehr genau achtet man auf die Grenzteilung zwischen den Ansprüchen, die einem bürgerlichen Subjekt und Citoyen zustehen, das Wert auf Bildung, Wohlstand und Reisen legt; zugleich unterschlägt man diese Ansprüche jenen auf der anderen Seite, indem man sie auf den Status von unbedarften Kreaturen festschreibt. So kann ein sizilianischer Bürgermeister im Gespräch und ohne auf den eigenen Widerspruch aufmerksam zu werden, mit erhobener Brust von den Reiseplänen seines Sohnes nach Tunesien berichten – und andererseits den Reisedrang von jungen Tunesiern nach Europa als etwas ihm vollkommen Unverständliches missbilligen.

Aber auch die Annahme, dass sie nichts zu verlieren haben, entspricht einer Wahrnehmung, die unter Ausschluss derjenigen gebildet wurde, um die es geht. Khelafir benennt nicht nur die Diskrepanz seiner Ansprüche und dessen Nichteinlösung in Algerien, sondern auch die Widrigkeiten, die ihm von europäischer Seite zugemutet werden. Ansprüche auf eine bewohnbare Wohnung anstelle eines feuchten Lochs; Ansprüche auf zumutbare Arbeitsbedingungen anstelle einer Sklavenbehandlung – und den Anspruch auf Legitimität, um im Zweifelsfall seinen Chef anzeigen zu können.

Diese Eigenwahrnehmung verhält sich genau umgekehrt zur Äußerung des Bürgermeisters, wenn er sich entsetzt gibt über die Umstände, unter denen Illegale bereit sind zu hausen, und wörtlich: „Regelmäßig besuche ich sie mit meiner Frau, die ein wahrlich großes Herz für sie besitzt, doch regelmäßig muss sie sich die Nase zuhalten.“ Ein Missverständnis? – wonach diejenigen, die sich nach einem besseren Leben umsehen, keinen Begriff davon haben sollen? Nur: Befragt man sie, stellt sich die Frage, von welcher Passivität das wenige zeugt, was man von der eigenen Seite bereit ist, ihnen zuzubilligen. Denn nach ihren Antworten müsste man auf gleicher Augenhöhe mit ihnen verhandeln – und damit die eigenen Vorstellungen von autonomen, handelnden und fühlenden Subjekten mit ihnen teilen. Auch dies entspräche einer Grenzauflösung. MARGARETH OBEXER

Von der Autorin erschien zuletzt das Theaterstück „Das Geisterschiff“