Aufbruch der Unsichtbaren

Alle reden über den Rechtsruck in Polen. Aber was macht eigentlich die Linke? Eine Momentaufnahme aus Warschau

AUS WARSCHAU MIA RABEN

Der junge polnische Revolutionär bestellt am frühen Nachmittag Kirschwodka und Cola – getrennt. Er ist groß, schlank, trägt eine Brille und raucht. „Schick mir bald den Text!“, ruft er Maciej Nowak hinterher, dem bekanntesten Schwulen Polens, einem massigen Riesen mit langen grauen Haaren. Zurück im Gespräch am Tisch auf der Warschauer Caféterrasse sagt er: „Wir müssen eine Front bauen!“, und hockt sich auf die Sitzfläche des Stuhls. Kein Zweifel: Slawomir Sierakowski ist entschlossen, die polnische Linke aufzubauen.

„Links“ ist ein Schimpfwort

Links in Polen – war das nicht die Gewerkschaftsbewegung Solidarność? Sind das nicht die oppositionellen Helden der samtenen Revolution? Über sie schrieb Sierakowski kürzlich in der taz: „Der durch sie geschaffene Staat zählt zu den ungerechtesten im zeitgenössischen Europa – mit seiner sich rasend schnell ausbreitenden ökonomischen Ungleichheit, mit dem sich alltäglich vollziehenden Einreißen der Arbeitnehmerrechte, mit der größten Arbeitslosigkeit auf dem Kontinent und der Dominanz der neoliberalen Ideologie in den wichtigsten Medien.“

Wie ein Mantra wiederholt er seine Theorie der zwei dominierenden Diskurse in Polen (siehe Interview). Es gibt wirklich noch keine polnische taz. Die Linke ist in Polen in Verruf geraten. Der Begriff „Lewica“ (sprich: Lewiza) gilt als Schimpfwort. Er vereint die repressive Vergangenheit von vor 1989 mit den korrupten Seilschaften der Postkommunisten heute. „Postkommunistische Pseudolinke“ nennt sie Sierakowski. Die Wut auf all die Apparatschiks, die nach der Wende durch zweifelhafte Deals ihre politische in wirtschaftliche Macht umwandelten, ist enorm. Das ist ein Grund dafür, warum die stärkste Partei des Landes „Recht und Gerechtigkeit“ heißt und die Linke noch im Abseits ist.

Es gibt in Polen keine Mittelklasse, die über ihren Lebensstil nachdenkt. Für die Grünen stimmten bei der Parlamentswahl im September gerade mal 20.000 Polen, rund 0,16 Prozent der Wahlgänger. Die westlichen Industriegesellschaften denken – wenn auch begrenzt – immerhin schon seit den Sechzigerjahren an Umweltschutz und Emanzipation. Ein sicheres Einkommen wurde damals langsam selbstverständlich. In Polen soll das alles gleichzeitig passieren. Dabei musste die Gesellschaft in den vergangenen 16 Jahren in großem Tempo enorme Veränderungen verarbeiten. Konservative Werte wie Religion und Vaterland bieten da vielleicht Halt im rasanten Wandel.

Hinter der Oder denken viele, dass alle Polen konservativ sind. Doch wer kann schon wissen, was die Mehrheit der Polen denkt. Nur 40 Prozent der Wahlberechtigten stimmten bei der Parlamentswahl ab. Zu den Präsidentschaftswahlen kamen so wenig Polen wie nie: Noch nicht einmal 50 Prozent. „Die Menschen wissen ja noch nicht mal, dass es die Grünen gibt!“, sagt Agnieszka Grzybek von den „Zieloni“, den polnischen Grünen. Jeder hat eine Stimme, aber nicht jeder wird gehört, sagt die bekannteste polnische Feministin Kinga Dunin.

Die Entstehung der außerparlamentarischen Opposition in Polen erinnert an die Zeiten der großen Koalition in Deutschland unter Kanzler Kiesinger. Die beiden größten Parteien (PO und PiS) versuchen gerade, eine Regierung zu bilden, während viele Polen sich durch die parlamentarische Opposition nicht vertreten fühlen. Auch die Orientierung von Teilen der APO Polska an der Frankfurter Schule hat Tradition. Neulich führten Daniel Cohn-Bendit und Slawomir Sierakowski ein hitziges Streitgespräch.

Auf völlig anderen Missionen befinden sich Parteien und Medien. Sie wollen öffentliche Institutionen nach ehemaligen Kollaborateuren und Agenten durchsuchen. Die Wut auf den Muff kommt reichlich spät. Junge Linke betrachten die „Dekommunisierung“ deshalb als rückwärts gewandt. „Vergiss den dicken Strich!“, sagt Sierakowski. Er meint die historische Einigung aus dem Jahr 1989. Damals vereinbarte die Opposition am Runden Tisch mit den Kommunisten, das neue Polen in friedlichem Einvernehmen aufzubauen. Die Archive der Geheimdienste blieben versiegelt. Auch Agnieszka Grzybek sagt: „Lasst uns in die Zukunft schauen!“

Das Manipulieren und Politisieren der Geschichte soll ein Ende haben. Das deutsch-polnische Verhältnis hat genug gelitten. Die blinde Treue zu den USA, insbesondere der polnische Einsatz im Irak, hat Polens Position in der EU geschwächt. „Polen sollte sich stärker in Europa engagieren und seine Chance als EU-Grenzstaat nutzen. Wir sollten eine Brücke nach Osten bauen“, sagt die Grüne.

Vor dem Café kann man nirgendwo das Fahrrad anschließen. Wir sitzen draußen und bewachen es – fröstelnd. Die Kälte kann ihr nichts anhaben. „Wir brauchen eine Revolution! So wie damals in Deutschland!“, sagt sie. So muss es gewesen sein: Eine wachsende Gruppe junger Leute, die ihre Haltung mit Leidenschaft zur Schau tragen. „Uns fehlt ein charismatischer Anführer. Vielleicht brauchen wir einen grünen Walesa!“, sagt sie und trinkt von ihrer heißen Schokolade mit Chili – da kommt das Blut in Wallung.

Die jungen Linken stoßen an konkrete Grenzen. Nach der Ausschreibung eines Wettbewerbs der Stadt Warschau für Nichtregierungsorganisationen gewann Sierakowskis Krytyka Polityczna eine große Altbauwohnung im Zentrum. Endlich der Ort für ihr linkes Forum! Doch dann sei der Brief von Bürgermeister und Präsidentschaftskandidat Lech Kaczyński gekommen. Wohnung: aberkannt. Begründung: keine. Kaczyński sagt Sätze wie „Ich bin kein Unterstützer von schwul orientiertem Verhalten.“

Schwule werden bespuckt und mit Steinen beworfen. Es gibt viel Arbeit für die neue Linke in Polen. Ein weiteres Beispiel aus dem Alltag der Schwächeren: Eine Frau will abtreiben und geht ins staatliche Krankenhaus. Der Arzt sagt nein. Das Gesetz erlaubt Abtreibung nur sehr begrenzt. Nachmittags, die Frau war beim Geldautomaten, der zweite Versuch. Gleicher Arzt, anderer Kittel. Er arbeitet jetzt für eine „Privatklinik“, die einige Räume in der staatlichen Klinik mietet. Jetzt heißt es: „Aber bitte, hier entlang.“

Die Künstler und die Politik

Der Weg zur neuen – sozusagen zur post-postkommunistischen – Linken führt über den elegant-gemütlichen Klub Le Madame in der Warschauer Neustadt. Man trifft sich auf Tschetschenien-Sympathie-Konzerten oder HIV-Abenden. Festere Strukturen oder Institutionen gibt es nicht. Die Raster Galerie ist noch so ein Ort, wo sich die Querdenker treffen. Lukasz, 33, ist einer ihrer Gründer. Auch ihm fehlt der linke Diskurs. Er spricht über die Spannung zwischen Kunst und Politik.

„Es ist eine schwierige Beziehung, in der es immer darum geht: Wer ist das Opfer? Gute Kunst ist nicht eindeutig politisch. Politische Kunst kann schnell zu eindeutig sein“, sagt Lukasz. Sierakowski wirft den Raster Künstlern vor, sie hätten Angst davor, als Aktivisten zu gelten. Lukasz sagt: „Sierakowski? Du meinst den Premier?“ Wie – den Premier? „Ja, wir nennen ihn den Premier. Für seine Kampagne ist es vielleicht noch zu früh. Aber er will die Macht.“