„Wir müssen die Einwanderung organisieren“

Der grüne Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit fordert Einwanderungsbüros der EU in Afrika. Denn nurmit einer offensiven Migrationspolitik der EU sind Flüchtlingsdramen wie in Melilla und Ceuta zu vermeiden

taz: Herr Cohn-Bendit, was fällt Ihnen zu dem Flüchtlingsdrama, das sich in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla abspielt, zuerst ein?

Daniel Cohn-Bendit: Es ist ein schlechtes Gefühl, wenn das eintritt, wovor man jahrelang gewarnt hat: dass es nämlich zu solchen Zusammenstößen kommen wird, wenn keine andere Flüchtlings- und Einwanderungspolitik gemacht wird. Und dass alle richtigen Vorschläge, die man heute machen kann, nur langfristig wirken können.

Was wäre richtig?

Eine offene Einwanderungspolitik. Europa braucht organisierte Einwanderung, qualifizierte und unqualifizierte.

Was heißt das für Afrika?

Die EU sollte überall in Afrika Einwanderungsbüros aufmachen, wo sich Leute melden können, die nach Europa migrieren wollen. Die EU müsste zudem die Qualifizierung der Einwanderer vor Ort organisieren und Unternehmen unterstützen, die schon vor Ort arbeiten. Wenn Menschen eine legale Chance haben, nach Europa zu kommen, würden viele versuchen, diese zu nutzen. So könnte man die illegale Einwanderung reduzieren. Natürlich ist es richtig, einen Marshallplan für Afrika zu fordern. Aber wer soll das bezahlen? Welche Gesellschaft tut das?

Geht das Vorhaben der EU, wie Schily es will, in Afrika so genannte Anlaufstellen für Flüchtlinge einzurichten, in die richtige Richtung?

Nein, ich will keine Anlaufstellen oder Lager für Flüchtlinge, ich will Anlaufstellen für legale Einwanderung. So könnten jährlich vielleicht 250.000 oder 350.000 Einwanderer organisiert nach ganz Europa kommen. Wenn man Aufnahmelager einrichtet, wie Schily sie will, dann werden die Leute um diese Stellen einen Bogen machen und versuchen, anders nach Europa zu kommen.

Spanien hat versucht, einen Teil des Drucks dadurch zu nehmen, dass es illegale Einwanderer legalisiert hat.

Die Spanier sitzen in der Falle: Sie haben hunderttausende legalisiert und gehofft, so das Problem zu reduzieren. Aber ein Land allein kann das nicht lösen.

Schily und auch Bayerns Innenminister Günther Beckstein meinen, die spanische Legalisierungspolitik sei mit schuld an dem Flüchtlingsdrama.

Das ist Unsinn. Spanien hat Leute legalisiert, die drin sind. Schily und Beckstein instrumentalisieren die Lage in Nordafrika, um die unmenschliche Behandlung der hier lebenden Flüchtlinge zu begründen. Deutschland müsste die Bürgerkriegsflüchtlinge, die hier seit vielen Jahren leben, endlich legalisieren.

Ist Spanien also das Vorbild? Immerhin schiebt das Land jetzt Flüchtlinge nach Afrika ab.

Vorbild nein, aber die Altfälle müssen überall in Europa legalisiert werden.

Kann man die aktuelle Situation irgendwie entschärfen? Ärzte ohne Grenzen geht davon aus, dass allein an der Grenze zwischen Spanien und Marokko in den letzten zehn Jahren 6.300 Menschen starben. Marokko schiebt Flüchtlinge in die Wüste ab.

Entweder sagt man, Grenze auf, Leute rein, aber das halten unsere Gesellschaften nicht aus. Ich erinnere an die Million Asylbewerber in Deutschland und was für Auswirkungen das hatte. Oder man macht Flüchtlingsaufnahmelager, wie Schily sie vorschlägt. Da werden die Leute zwar menschlicher behandelt und „rechtsstaatlich“ wieder zurückgeführt: Solche Stellen werden die Flüchtlinge meiden. Solange es dieses Reichtumsgefälle gibt, so lange wird es diesen Einwanderungsdruck geben. Und so lange wird man illegale Einwanderungsversuche nicht ganz verhindern können, aber mindestens halbieren. Entweder wir organisieren endlich die Einwanderung oder wir werden uns Bilder wie aus Melilla noch lange ansehen müssen.

Die EU beginnt langsam mit einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik. Heute wollen die EU-Innenminister über „regionale Schutzprogramme“ für Regionen beraten, wo Flüchtlinge nahe der Heimat Zuflucht gefunden haben. Was halten Sie davon?

Die jungen Männer, die in Melilla ankommen, wollen keinen Schutz, sondern leben. Ich bin mal gespannt, wie regionale Überlebensprogramme aussehen sollen. Wir sitzen in einer Zwickmühle: Denn wir müssen Einwanderung und Entwicklungspolitik ermöglichen. Und zwar subito. Dies können aber keine Innenminister organisieren, sondern Entwicklungs-, Sozial- und Außenminister. Solche Einsichten aber erscheinen momentan mehr als utopisch.

Warum tut sich die EU so schwer mit der Flüchtlingspolitik?

Weil die EU-Staaten das Armutsgefälle in den eigenen Ländern und zwischen Nord und Süd in den Griff kriegen müssen. Aber wir sind so mit uns selbst beschäftigt, dass uns Kraft und Fantasie fehlen, etwas Sinnvolles für Afrika auf den Weg zu bringen.

INTERVIEW: SABINE AM ORDE