Das Recht des Stärkeren

Kathartisch oder sadistisch, rechtschaffen oder grotesk? „A History of Violence“, der neue, wunderbar intelligente Film von David Cronenberg, spielt die unterschiedlichen Wirkungsweisen von Gewalt durch. Niemand kommt hier mit heiler Haut davon

VON ANDREAS BUSCHE

Die dialektischen Verschränkungen im Kino des David Cronenberg haben in den vergangenen 20 Jahren eines der komplexesten und spannendsten Gesamtwerke hervorgebracht. Wie kein anderer Regisseur versteht sich Cronenberg darauf, den menschlichen Körper in eine symbolische Ordnung zu überführen, ohne die obszönen Lust am Fleischlichen kalter Zeichenhaftigkeit zu unterwerfen. Cronenbergs filmisches Oeuvre hat nicht nur in seiner thematischen Geschlossenheit etwas Organisches; im besten Cronenberg’schen Sinne fungiert es selbst wie ein parasitärer Organismus, der nach Belieben an formalästhetische Konstruktionen anschließen kann. Mainstream, Arthouse-Kino, psychotronischer Film – Cronenbergs Filme bedienen den und bedienen sich am postmodernen Bilderfundus mit einer physischen Unmittelbarkeit, die noch die Bilder selbst durchdringt.

Sein neuer Film, „A History of Violence“, fügt sich in diese Reihe nahtlos ein. Der Film basiert auf der gleichnamigen graphic novel von John Wagner und Vince Locke, doch nichts ist der Ästhetik der kleinen Bildkader geschuldet. Es dauert auch eine ganze Weile, bis die Handschrift des Regisseurs erkenntlich wird, denn „A History of Violence“ gibt sich den Anschein eines konventionellen Thrillers, der klaren Genremustern folgt. Cronenberg nimmt sich Zeit, den Zuschauer auf eine falsche Fährte zu locken, doch sein Spiel mit Klischees und Stereotypen erfüllt eine ganz bestimmte Funktion: Die Vertrautheit der Bilder unterstreicht die behagliche Normalität, die hier als Lebenskonzeption behauptet wird.

Die Stalls sind eine amerikanische Bilderbuch-Familie in einer amerikanischen Bilderbuch-Kleinstadt. Tom (Viggo Mortensen) betreibt ein kleines Diner, Edie (Maria Bello) arbeitet als Anwältin, ihre Kinder Jack und Sarah sind hübsch und wohlgeraten. Die Ehe der Stalls ist glücklich und etwas langweilig, genauso wie die Gespräche am Esstisch über Schulnoten und Kuchenrezepte. Die Routine im Ehebett wird mit einem kleinen Rollenspiel unterbrochen, und wenn das Nesthäkchen Albträume hat, versammelt sich die ganze Familie um das Bett der Kleinen.

Cronenberg etabliert diese Familienkonstellation in wenigen Szenen mit der erzählerischen Ökonomie eines Exploitation-Films, nachdem er als Kontrapunkt eine bestialische Ouvertüre gesetzt hat. Den Gewaltbegriff, um den „A History of Violence“ sich drehen wird, hat Cronenberg mit der Eröffnungssequenz etabliert. Zwei Männer checken aus einem Motel aus, verstauen ihr Gepäck im Wagen, der Ältere der beiden geht zum Büro, um die Rechnung zu begleichen. Die Bewegungen sind langsam und schleppend, jedes Wort wird von einem ohrenbetäubenden Zikadenorchester übertönt. Die Hitze setzt den Männer zu, sie sind müde und gereizt, und als der jüngere schließlich ins Büro zurückkehrt, um Wasser zu besorgen, streift sein Blick kurz über das Massaker, das sein Partner wenige Minuten zuvor angerichtet hat. Die kleine Tochter der Besitzer, die sich im Nebenzimmer versteckt hält, erschießt er, ohne eine Miene zu verziehen.

Die Szene, als Präludium vom Rest des Films abgekoppelt, gibt den Ton vor für eine profunde Reflexion über Gewalt – Gewalt nichts als abstraktes Konzept, sondern als physische Erfahrung, als denkbar direkteste Kommunikation zwischen zwei Körpern. Dabei geht Cronenberg pragmatisch an sein Thema heran: Kurz und beiläufig sind die Schnitte auf die geschundenen Körper; allerdings lang genug, um dem Zuschauer die Destruktivität vor Augen zu führen. Einmal wird ein Unterkiefer weggeschossen, ein anderes Mal eine Nase zu Matsch geprügelt.

Cronenbergs Faszination für die fragile Verfasstheit des menschlichen Körpers war in den vorangegangenen Filmen in erster Linie klinisch bedingt; Versehrungen waren stets eine Folge mentaler Defekte. Darum muss „A History of Violence“ auf den ersten Eindruck irritieren. Cronenbergs multiple Körperpolitik scheint hier zurückgeworfen auf prosaische Naturkräfte. Nicht mehr evolutionäre Adaptionsprozesse bestimmen die Kräfteverhältnisse der Körper, sondern das Recht des Stärkeren. Und auch formal hat Cronenberg sein bisheriges Oeuvre weit hinter sich gelassen. Der director of photography, Peter Suschitzky, der seit „Die Unzertrennlichen“ zu Cronenbergs Stammpersonal gehört, hat „A History of Violence“ in gleißendes Tageslicht getaucht: am Anfang die von der Sonne ausgebleichten Bilder, später die kräftigen Herbstfarben des amerikanischen Mittelwestens. Diese „kommerzielle“, naturalistische Ausleuchtung bringt den Bildraum in letzter Konsequenz um seine Tiefe. Aus dieser ostentativen Zweidimensionalität heraus eskaliert schließlich die Gewalt.

Als die zwei Killer Toms Diner überfallen, reagiert Tom mit tödlicher Präzision. Einem der beiden schießt er in Notwehr das halbe Gesicht weg. Die Medien stilisieren ihn nach diesem Zwischenfall zum Helden des Tages, Fernsehteams tauchen in dem kleinen Städtchen auf, sein Bild wird überall ausgestrahlt. Niemand wundert sich über Toms unerkannte Talente.

Doch der nicht abreißende Nachrichtenstrom führt auch den Mobster Carl Fogarty (Ed Harris) und seine Gefolgsleute von der Ostküste nach Millbrook, Indiana. Fogarty behauptet, Tom noch aus seiner Zeit bei der Mafia zu kennen. Die Narbe, die Harris Gesicht verunstaltet, ist eines dieser hübschen Cronenberg-Fetischobjekte. Tom soll ihm das Auge mit Stacheldraht ausgerissen haben, damals, als er noch unter dem Namen „Crazy Joe“ für seinen Bruder Richie (William Hurt) den Ausputzer gespielt hat. Tom tut die Geschichte als Hirngespinst ab, doch angesichts der äußeren Bedrohung entwickelt die Gewalt im Familiennukleus bereits eine Eigendynamik. Der ständigen Erniedrigungen überdrüssig, schlägt Toms Sohn einen seiner Peiniger in der Schule krankenhausreif.

„A History of Violence“ klinkt sich in einen filmischen Diskurs ein, der einen weiten Bogen von Sam Peckinpahs „ … wer Gewalt sät“ über Oliver Stones „Natural Born Killers“ bis zu Michael Hanekes „Funny Games“ schlägt. Eine Genealogie von Kino/Gewalt-Bildern. Als Apologet der Vielheit untersucht Cronenberg die Qualität dieser Gewalt in all ihren Facetten: kathartisch, destruktiv, sadistisch, spekulativ, rechtschaffen, grotesk etc. Nicht die moralischen Standpunkte interessieren ihn, sondern die Affekte, die sie hervorrufen – die Reaktion des Zuschauers, dieses ewigen Voyeurs. So hat er einige Testbojen ins Publikum gelassen und dieses Jahr in Cannes prompt Reaktion geerntet. Einem österreichischen Kritiker missfiel während der Pressevorführung das unangemessene Lachen seiner Kollegen; er erbat sich lautstark mehr Ernst vom anwesenden Fachpublikum.

Cronenberg hat solche Reaktionen einkalkuliert. Er betrachte Lachen nicht per se als unangemessene Reaktion auf seinen Film, hat er nach der Premiere in Cannes gesagt. Ebenso wenig wie das zustimmende Johlen des Mobs, wenn Tom in seinem Diner die zwei Psychopathen killt. Im Vergleich zu den didaktischen Modellen eines Wim Wenders’ („Das Ende der Gewalt“) oder Michael Hanekes funktioniert Cronenbergs Film nach dem Kuleshov-Effekt: Der Zuschauer nimmt Gewalt anders war, je nach dem, in welchem Kontext sie steht (Lev Kuleshov war der sowjetische Cutter und Regisseur, der Anfang der 20er-Jahre herausfand, dass dieselbe Einstellung auf das Gesicht eines Schauspielers jeweils anders wahrgenommen wird, wenn sie mit dem Bild eines Tellers Suppe, dem eines Kindes oder dem eines Toten kombiniert wird. Im ersten Fall sahen die Zuschauer ein hungriges, im zweiten ein fröhliches und im dritten ein trauriges Gesicht). Gewalt ruft in „A History of Violence“ also die unterschiedlichsten Reaktionen hervor, und manchmal ertappt man sich beim Lachen an den falschen Stellen – aber: Was heißt schon „falsch“?

Ausgerechnet zwei Sexszenen bilden eine Klammer um Cronenbergs Gewaltbegriff und führen so die Ambivalenz normativer Wertvorstellungen vor. Wohl nicht ganz zufällig weisen sie auch zurück auf die Familie, diesen idealisiertesten aller Gewalthorte. Beim ersten Mal spielen Edie und Tom noch harmlos ihre, wie sie es nennen, verpassten Teenagerjahre nach; wenn Edie ihr altes Cheerleader-Dress anzieht, dann imaginieren sie und Tom eine Unschuld, die sie längst verloren haben. Als die Fassade der Normalität bereits bröckelt und die schizoide Doppelung von Tom/Crazy Joe nahezu vollzogen ist, geht es noch mal richtig zur Sache: auf der Treppe, mit geballten Fäusten. Es ist ein böser Fick, und es ist ihr bester Fick seit langer Zeit, daran besteht kein Zweifel. Die Treppenszene liefert in „A History of Violence“ den Kulminationspunkt, an dem äußere (exzessive) und innere (domestizierte) Gewalt endgültig miteinander verschmelzen. Eine besonders originelle Variante von Cronenberg’scher Metamorphose.

Die Projektion seines Gewaltbegriffs auf hehre amerikanische Familienwerte ist das Beste, was Cronenberg in den letzten 20 Jahren an Satire geleistet hat. Darum darf Tom/Joe am Ende – nach getaner Arbeit – wieder am Esstisch Platz nehmen. Die Familie hat ihre blutige Geschichte assimiliert, das Leben geht weiter. Doch dieses Happy-End ist ein Hohn. Mortensens letzter Blick spricht Bände. Ähnlich dem Ende von Douglas Sirks „Es gibt immer ein Morgen“ ist es ein Blick durch Gitterstäbe. Die Familie als Gefängnis.

Niemand kommt mit heiler Haut davon.

„A History of Violence“, Regie: David Cronenberg. Mit Viggo Mortensen, Maria Bello u. a., USA 2005, 96 Min.