DIETER BAUMANN über LAUFEN
: Kalkül passt nicht ins Glück

Ich lief. Und lief. Ich lief mich glücklich, wie früher. Doch dann kamen die ersten Hochrechnungen rein …

Es war am Donnerstag vor einer Woche. Ich lief durch den Wald. Nun gut, das ist noch nichts Besonderes, denn ich laufe jeden Tag durch den Wald, meine übliche Runde auf dem Spitzberg. Auch das ist nichts Besonderes, denn ganz Tübingen läuft dort. Von der Innenstadt ist es nicht weit, höchstens zwei Kilometer, die Runde selbst ist 3,3 Kilometer lang, macht inklusive Heimweg insgesamt 7,5 Kilometer.

Ideal also für Menschen, die ab und zu laufen oder damit beginnen wollen. „Hardcoreläufer“ trifft man dort selten, die laufen in Tübingen im Schönbuch. Da ich seit zwei Jahren, nach Beendigung meiner Karriere, nicht mehr zu den „Hardcoreläufern“ gehöre, laufe ich fast nur noch mit den „Abundzuläufern“ auf dem Spitzberg. Es gibt kein Quälen mehr und keine Schinderei.

Vor einer Woche also lief ich durch den Wald, langsam, grüßte einige Spazierleute, winkte den „Abundzuläufern“ zu und hatte auch sonst zu allem und jedem, was sich sonst noch durch den Wald treibt, ein aufmunterndes Lächeln. Nach einer Runde hatte ich den läuferischen Idealzustand erreicht: Ich dachte an nichts. Alles in allem war es wie immer, und das war gut so.

Ungewöhnlich an diesem Tag war, dass ich nach Beendigung der ersten Runde in eine zweite Runde einbog. Aber noch ungewöhnlicher war der Gedanke an ein Fahrtspiel, der mir dabei durch den Kopf ging.

Das „Spiel“ mit dem Tempo (Fahrt) ist eine sehr spezielle Trainingsform. Ein Fahrtspiel machen nur Menschen, die Wettkämpfe laufen wollen. Die sich messen lassen wollen und auch sonst immerzu von Laufen reden, von Pulswerten, Zwischen- und Bestzeiten. In meinem Fall sind Fahrtspiele also Vergangenheit. Aber obwohl ich seit langer Zeit keinen Wettkampf mehr gelaufen war, dachte ich doch an schnelles Laufen – das irritierte mich. Und trotzdem, nach genau 24 Minuten und 23 Sekunden, wurde aus dem Gedanken Wirklichkeit. Ich blieb stehen, dehnte mich ein wenig, machte drei Steigerungen fürs „Feeling“ und dann ging es los.

Mit den ersten schnellen Laufschritten tastete ich mich voran, denn zunächst nahm ich mir nur 5 mal 3 Minuten vor. Das bedeutet drei Minuten sehr schnelles Tempo, dann zwei Minuten Trabpause, danach wieder drei Minuten sehr schnell, das Ganze fünfmal wiederholt. Mit jedem schnellen Laufabschnitt entwickelte sich das Fahrtspiel zu einem wunderbaren Programm. Oohh, ich sage ihnen, dieses Gefühl war einfach fantastisch. Ich presste die verbrauchte Luft mit einem lauten Zischen aus meiner Lunge, um für den nächsten Atemzug Platz zu schaffen. Ich spürte, wie die Atemfrequenz bei dieser hoher Geschwindigkeit zunahm, und konnte gleichzeitig einen gleich bleibenden Rhythmus halten, spürte die Grundspannung der Muskulatur beim Abdruck und freute mich meiner uralten Reflexe. Es war, als ob ich mich in meine eigene Vergangenheit zurückversetzt hätte.

Nach dem fünften Lauf war ich wie berauscht – nein, nix Endorphine – und wollte nicht aufhören. Spontan entschloss ich mich zu fünf weiteren schnellen Läufen, ein echtes Fahrtspiel also, 10 mal 3 Minuten, wie früher. Das Glück nahm, im wahrsten Sinne des Wortes, seinen Lauf. Ich weiß, kein Leser wird das verstehen, aber nachdem ich stehen geblieben war, gab es keine andere Empfindung als reines Glück. Dieses Glücksgefühl war einfach fantastisch.

Beim Nachhauselaufen aber begann ich zu rechnen. Wie schnell war ich gelaufen? Was war dieses Tempo wert? Eine Halbmarathondistanz hätte ich in diesem Tempo in einer Stunde und neun Minuten zurückgelegt.

Dann stellte ich die ersten Hochrechnungen an: Was, wenn ich dieses Tempo länger durchhalten könnte? Welche Zeit wäre dann bei einem Marathon drin? Schon verblasste das eben erlebte Glück, die Gedanken wurden beherrscht von Zahlen, von Abwägungen. Ganz am Ende des Laufes ließ ich alles wieder fallen, die Gedanken, das Fahrtspiel, die Hochrechnungen, den Marathon. Denn seit einiger Zeit wissen wir ja: Hochrechnungen sind nur für Journalistenwünsche gemacht und am Ende nichts wert.

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