„Wir sind radikal“

Die Postpunk-Veteranen Gang of Four sind die gerade einflussreichste Band der Welt. Ein Gespräch mit ihrem Sänger Jon King über ihre neue Platte „Return The Gift“ und eine politische Pop-Ästhetik

INTERVIEW THOMAS WINKLER

taz: Können Sie mir den genauen Tag nennen, an dem Sie morgens aufwachten und feststellen mussten, dass Sie in der einflussreichsten Popband der Welt spielen?

Jon King (ein sehr englisches, distinguiertes Lächeln huscht über sein Gesicht): Ich glaube nicht, dass ich das wirklich jemals dachte. Ich finde den Gedanken immer noch seltsam. Es gibt Musiker, mit denen in einem Raum zu sein, mich schon sprachlos machen würde: Bob Dylan, Miles Davis oder Muddy Waters. Zu der Liga fühle ich mich nicht zugehörig. Aber das soll keine falsche Bescheidenheit sein, denn ich glaube, dass man sich für unser Werk nicht zu schämen braucht.

Aber Sie haben irgendwann bemerkt, dass sich viele Bands auf Gang of Four berufen oder ihnen nachgesagt wird, Sie zu kopieren?

Das ist mir aufgefallen in den letzten zwölf Monaten, ja. Ich habe mir unsere alten Aufnahmen wieder angehört und festgestellt, dass das wirklich ziemlich außergewöhnliche Musik ist. Obwohl ich daran mitkomponiert habe, kam ich mir wie eine dritte Person vor, die durch diese Musik ihr altes Ich wieder kennen lernt.

Wie lange hatten Sie die alten Platten nicht mehr gehört?

Fünfzehn Jahre ungefähr. So war mir bis vor ein paar Monaten gar nicht klar, wie einzigartig und ungewöhnlich unsere Musik war. Ich fand selbst die Texte, die ich gesungen habe, überraschend, ich hatte vieles auch vergessen. Vor ungefähr sieben Jahren ging ich aus, zum Tanzen in einen Club, und im Hintergrund lief dieser wirklich heftige Track. Das ist ein ziemlich gutes Stück, sagte mein Bekannter zu mir. Und ich antwortete: Ja, ziemlich gut, von wem ist das? Er sagte: Das ist „What We All Want“, du hast es geschrieben.

Kommt es vor, dass Sie in einen Club kommen, der DJ Sie erkennt und dann peinlicherweise einen Ihrer Songs spielt?

In Amerika passiert das öfter mal. Aber ich habe es immer genossen, anonym zu bleiben. Berühmt zu sein war immer das, was mich am Popgeschäft am meisten abgestoßen hat. Auch da waren Gang of Four recht einzigartig: Der Ruhm hat uns überhaupt nicht interessiert. Heutzutage scheinen alle Bands als Allererstes ihr Image und ihren Look zu besprechen. Ich laufe immer noch gern vor einem Konzert durch die Halle, stelle mich an die Bar und höre den Leuten heimlich dabei zu, wie sie über uns reden.

Bassist Dave Allen sagte kürzlich, Gang of Four seien ihren Epigonen immer noch Lichtjahre voraus. Stimmen Sie da zu?

Das weiß ich nicht. Ich glaube aber, dass unsere beiden ersten Alben „Entertainment!“ und „Solid Gold“ in ihrer Herangehensweise wesentlich radikaler sind als alle Bands, die angeblich von uns beeinflusst sind. Was die Menschen immer verbinden mit Gang of Four ist vor allem der Gitarrensound zwischen Punk und Funk, aber dieser Sound wurde zu Britpop ausgedünnt. Ich mag Franz Ferdinand, aber sie sind halt eine Popband. Sogar die Red Hot Chili Peppers, deren erstes Album Andy [Gill, der Gitarrist, d. Red.] produziert hat, haben zwar diesen Punk-Funk-Sound adaptiert, aber ihn mit sehr kommerziellen Melodien versetzt. Ich habe keine Ahnung, ob wir irgendjemandem Lichtjahre voraus sind, aber ein Song wie „Anthrax“ ist immer noch so extrem und radikal wie damals. Tatsächlich klingt er heute fast noch radikaler: Keine Strophen, kein Refrain, keine Bridge, noch nicht mal ein Akkordwechsel. „To Hell With Poverty“ hat noch nicht mal einen Akkord, sondern besteht nur aus drei Noten. Das war extrem, und das ist heute immer noch extrem.

Andy Gill hat das mal so beschrieben: „Wir benutzen die Instrumente nicht, wie sie in einer typischen Rock-Hierarchie benutzt werden. Bei uns arbeiten alle vier Stimmen gleichberechtigt zusammen, um ein großes rhythmisches Ganzes zu schaffen.“

Rockmusik ist auf jeden Fall sehr steif und berechenbar geworden. Jeder kann einen Zwölf-Takter spielen, die Formate sind fest gelegt, die Gesetze für Akkordfolgen geschrieben. Das ist, als ob man im Urlaub einen Sprachführer benutzt: Dann kann man zwar nach dem Bahnhof fragen, man kann sich über Funktionales unterhalten, aber über mehr auch nicht. Radikal ist es, eine ganz neue Sprache zu entwickeln.

Kann ein Sound allein, ohne Text, denn politisch sein?

Gute Frage, und ich würde sie mit Ja beantworten. Die Musik, wegen der ich selber Musiker werden wollte, war „Highway 61 Revisited“ von Bob Dylan. Ich war sehr jung, und ich habe zwar die Worte verstanden, aber eigentlich nicht den Sinn der Texte. Aber diese Stimme, dieses Schnarren, man wusste sofort dass man auf der richtigen Seite war, auf der Seite der fortschrittlichen, radikalen, linken Kräfte. Auf der anderen Seite waren die Spießer und Langweiler. Das lag alles in dieser Stimme. Und als Jimi Hendrix das „Star Spangled Banner“ spielte, kam kein einziges Wort über seine Lippen, aber es gab trotzdem Anhörungen vor dem Kongress, es gab Bestrebungen, ihm seinen Pass wegzunehmen. Die Aussage lag nur im Sound.

Es gibt zwei Strategien, die politische Popmusik anwendet, und Gang of Four haben beide Strategien ausprobiert: Mit den beiden ersten, sehr sperrigen Platten blieb man musikalisch radikal und nahm dafür in Kauf nur zu den bereits Bekehrten zu predigen. Mit dem Pop des dritten Albums „Songs of the Free“ spielte man das U-Boot im Mainstream. Welche Strategie verspricht mehr Erfolg?

Das hängt davon, was man erreichen will. Wenn man eine Menge Geld machen will, dann ist die zweite Strategie die richtige. Aber das haben wir ja auch nicht hingekriegt. Wir hatten es auch nie auf den kommerziellen Erfolg abgesehen. Man kann nicht einen Song wie „At Home He’s A Tourist“ aufnehmen, mit seiner unrhythmischen Feedback-Gitarre, seiner Nichtmelodie über einem mutierten Disco-Beat und einem Text über Entfremdung, und allen Ernstes erwarten, das würde ein Hit. Wir haben Musik nicht gemacht, um Geld zu machen.

Natürlich wollten wir so viele Menschen wie möglich erreichen, deshalb wird man ja Musiker. Und man muss Kompromisse machen, weil man von etwas leben muss. Man veröffentlicht Platten, aber man bleibt sich treu und unterschreibt bei einem Indie-Label. Wir haben 100.000 Stück unserer ersten EP „Damaged Goods“ verkauft und nie auch nur einen Penny davon gesehen, wir wurden verarscht. Ein schönes Paradox: Wir machen eine Platte, die aufzunehmen ungefähr 70 Pfund kostet, die dem Typen, der sie vertreibt, eine Viertelmillion Pfund einbringt, aber uns wird noch nicht mal die Busfahrkarte zum Studio ersetzt. Aber als wir zur EMI gingen, landeten wir trotzdem nicht in den Charts. Wir haben niemals irgendetwas an Gang of Four verdient. Und das hört man der Musik auch an. Ich mag eben Authentizität, ich mag auch Muddy Waters.

Warum diese Reunion?

Wir vier wollten noch einmal diesen klassischen Sound von Gang of Four wiederbeleben. Außerdem waren wir damals fürchterlich zueinander. Mitglied von Gang of Four zu sein, das war eine ziemlich unangenehme Sache, weil wir vier Typen so besessen waren, so viel voneinander verlangt haben. Bei einem Konzert in Jugoslawien wollte das Publikum eine Zugabe, aber wir konnten nicht zurück auf die Bühne, weil sich Andy und Dave backstage prügelten. Dave hatte während des Auftritts seinen Fuß auf einen Monitor gestellt, und Andy fand das rockistisch – das reichte damals schon, um sich die Fresse zu polieren. Diese Extremität hört man in der Dynamik von Songs wie „At Home He’s A Tourist“, aber gesund war das nicht. Mittlerweile sind wir aber sehr viel entspannter und netter zueinander.

Was halten Sie von den Reunionen der Pixies und von Dinosaur Jr. und dass diese Bands ganz offen sagen, dass sie vor allem des Geldes wegen noch einmal zurückkommen?

Ich habe da keine Meinung. Ich denke, die Bands können das Geld brauchen, sie haben es sich auch verdient, und ich wünsche ihnen viel Glück. Velvet Underground haben ja dasselbe gemacht: Ihre Reunion kam ja vor allem deshalb zustande, weil Mo Tucker und Sterling Morrison pleite waren. Für uns war das kein Grund: Wir vier haben alle gute Jobs, zum Teil eigene Firmen. Wir sind zwar keine Millionäre, aber natürlich ist es sehr befreiend, genug Geld zu haben. Wir müssen nicht wegen des Geldes zurückkommen. Wir würden niemals wegen des Geldes zurückkommen.

Ist das nicht ironisch: Dass aus den Mitgliedern einer radikalen antikapitalistischen Band selbst erfolgreiche Kapitalisten geworden sind?

Ironie ist immer gut. Aber ein Kapitalist ist jemand, der daran interessiert ist, viel Geld zu machen, und ich mag es nicht mal, Chef von 100 Angestellten zu sein. Wir waren immer daran interessiert, möglichst viele interessante Dinge zu machen. Sonst verschwendet man sein Leben. Wie die Amis so schön sagen: Ich schreibe lieber das Drehbuch, als mir den Film anzugucken.