Eine Quelle ist keine Quelle

Wie viel PR steckt in der Springer-Zeitung „Hamburger Abendblatt“? Eine ganze Menge, sagt der Leipziger Journalistik-Professor Michael Haller. Dafür hat ihn der Springer Verlag nun verklagt

„Die heilige Kuh der Unabhängigkeit wird auf den Schlachthof getrieben“„Bei Springer sieht man Verschluderung von journalistischem Selbstverständnis“

AUS LEIPZIG TOBIAS HÖHN

Wenn der Journalistikprofessor Michael Haller am Frühstückstisch das Hamburger Abendblatt aufschlägt, wird er rasch vom Abonnenten zum Medienwissenschaftler. „Ich beobachte mich selbst dabei, wie ich versuche, die Quellenlage zu checken, und die Texte auseinander nehme“, sagt der 60-Jährige, der in Hamburg wohnt und in Leipzig lehrt. Seit er eine Untersuchung der Universität Leipzig und des Instituts für Praktische Journalismusforschung zur Sicherung redaktioneller Unabhängigkeit in deutschen Tageszeitungen durchgeführt hat, ist aber nicht nur er sensibilisiert. Der Axel Springer Verlag, zu dem das 304.000 Auflagen starke Blatt gehört, hat den Forscher verklagt

Haller soll seine Aussage widerrufen, dass sich im Hamburger Abendblatt in den vergangenen vier Jahren ein umfassender PR-Journalismus etabliert hat. Heute beginnt vor dem Landgericht Leipzig der Prozess.

„Kostenlos telefonieren in Hamburg“ hieß beispielsweise die frohe Botschaft des Abendblatts einen Tag vor Weihnachten 2004: „HanseNet gewinnt Ausschreibung der Stadt. 200.000 Kunden können ab April gebührenfrei Behörden anrufen“, pries die Wirtschaftsredaktion auf 110 Zeilen und einer 270 Quadratzentimeter großen Fotomontage (mit Firmenchef und Firmenschriftzug) das Angebot im Wirtschaftsteils an – als Aufmacher.

Der von Hallers Team durchgeführte Abgleich mit HanseNet-Pressematerial machte deutlich, dass sich der Autor aus den vorgefertigten Formulierungen bediente und sie mit ein paar belanglosen Zitaten des Firmensprechers garnierte. Alles aus einer Quelle. Überprüfung? Anrufe bei der Telekom oder anderen Mitbewerbern im Telefonmarkt? – Fehlanzeige.

Bei diesem Beitrag handelt es sich für Haller weder um Zufall noch um einen Einzelfall. Haller, einst Ressortleiter bei der Zeit und Redakteur beim Spiegel, geht mit seiner Zunft hart ins Gericht: „Gerade am Beispiel von Springer sieht man eine Verschluderung von journalistischem Selbstverständnis und der gesellschaftlichen Funktion des Journalismus. Journalisten verstehen sich oft zunehmend als Text- und Themenmanager, die eine möglichst zufriedene und vergnügte Leserschaft zum Wohle ihres Arbeitgebers erzeugen.“ Und das in der extrem kahlen Hamburger Tageszeitungslandschaft: Neben dem Hamburger Abendblatt (Auflage: 270.000) gibt es in der Millionenstadt nur noch Boulevard (Hamburger Morgenpost, Bild-Ausgabe Hamburg) – und die taz Hamburg).

Auch in personell gut ausgestatteten Redaktionen treffe man häufiger auf redaktionelle Beiträge, die sich ohne weitere Recherchen nur auf eine Quelle stützten und manchmal gar deckungsgleich seien mit dem versandten Material der Öffentlichkeitsarbeiter, so Haller. Untersucht wurden die Lokal- und Wirtschaftsteile sowie die Ressorts Auto und Reise von drei Tageszeitungen aus den neuen (Sächsische Zeitung, Leipziger Volkszeitung, Magdeburger Volksstimme) und drei Blättern aus den alten Bundesländern (Kieler Nachrichten, Lübecker Nachrichten, Hamburger Abendblatt). Der Untersuchungszeitraum war jeweils das vierte Quartal der Jahre 2000, 2002 und 2004. „Die heilige Kuh der journalistischen Unabhängigkeit wird auf den Schlachthof getrieben. PR als trojanisches Pferd des Journalismus wird hoffähig“, konstatierte Haller – und das gilt fürs Hamburger Abendblatt nach seinen Erkenntnissen noch stärker als für die anderen untersuchten Regionalzeitungen.

Auch das Netzwerk Recherche (NR) beobachtet diesen allgemeinen Trend in vielen Häusern mit Sorge. „Journalisten sollen frei von anders gearteten Interessen arbeiten können. Das können partei- oder gesellschaftspolitische Interessen sein, aber natürlich auch wirtschaftliche. Das Ziel von PR ist im Kern genau das Gegenteil, nämlich die Informationssituation im Sinne eines Auftraggebers zu gestalten“, sagt Thomas Leif, SWR-Chefreporter und einer der NR-Vorsitzenden.

Springer übt sich indes in Zurückhaltung. Unternehmenssprecher Tobias Fröhlich verweist auf das laufende Verfahren und verwehrt jede weitere Auskunft. „Wir vertrauen auf die deutschen Gerichte“, sagte er. Als Haller seine Vorwürfe im November 2004 in einer Rede vor dem Deutschen Journalistentag zum Tagungsthema „Embedded Forever – Verkommt der Journalismus im bequemen Bett von PR und Marketing?“ zum ersten Mal formulierte, erklärte Springer in einer ersten Reaktion noch: „Die Berichterstattungen im Hamburger Abendblatt sind unabhängig, sorgfältig recherchiert, sachlich kritisch und nicht auf Public Relations gestützt. Tatsächlich lehnt das Hamburger Abendblatt PR-Berichterstattungen ab.“

In der aufgeheizten Debatte um Schleichwerbung und die Verquickung des integren Journalismus mit persönlichem Profit kommt den Leipziger Richtern ein womöglich viel beachtetes Urteil zu. Wie immer auch die Kammer entscheidet, etwas Positives beobachtet Haller seit der ersten Veröffentlichung seiner Ergebnisse: „Mir scheint, die Zahl der simpel gestrickten PR-Berichte ist im Lokalteil des Hamburger Abendblatts zurückgegangen. Jetzt entdeckt man wieder die journalistischen Handwerksregeln.“