So klingt Europa

Vor fünfzig Jahren wurde die meistgesehene Musikshow der Welt „erfunden“: der Grand Prix Eurovision. Cool war er nie. Vom Publikum ersehnt wie gehasst – und bei den Künstlern gefürchtet. Und doch hat diese Show viel für die internationale Verständigung getan. Ein Rückblick mit Respekt

VON JAN FEDDERSEN & IVOR LYTTLE

Erstens: Der Plan. Die Übertragung der Krönung Elizabeth’ II. war schon mal passabel gelungen. Live und in Schwarz-Weiß. Nicht als Konserve. Fernsehen wollte mehr sein als die „Wochenschau“, die damals in allen Kinos lief und die erste Quelle für bebilderte Nachrichten war. Es galt, Fernsehen zu vernetzen. Das neue Medium zu internationalisieren. Stoff parat zu halten, Nachrichten vor allem, ihn vielen Sendern zur Verfügung zu stellen. Man brauchte eine Testsendung. So kam man Anfang Oktober 1955 in Rom zusammen, im Palazzo Corsini.

Was würde das rare Publikum – noch hatte beileibe nicht jeder ein Fernsehgerät – mögen? Varieté? Wahrscheinlich. Musik? Bestimmt. Und damit nicht gleich alle wieder abschalten, wurde vereinbart, aus dem Grand Prix of the Eurovision, wie der Arbeitstitel lautete, einen Wettbewerb zu stricken. Der Vorschlag kam von der BBC, auf der Insel liebt man Wetten und Wettbewerbe mehr als jede Ästhetik als solche. Ein Spiel um Lieder und Noten. Mit Sängern und Orchestern.

Am 24. April 1956, einem Donnerstag, fand der erste Gran Premio Eurovisione della Canzone Europea statt – im Teatro Kursaal in Lugano. Lys Assia, eine Art Christina Aguilera jener Jahre, gewann mit „Refrain“. Ihr sollten noch viele SiegerInnen folgen, 52 bis zum Mai dieses Jahres, als in Kiew die Schwedin Helena Paparizou für das Land ihrer Eltern, Griechenland nämlich, gewann.

Zweitens: Die Deutschen. Haben den Grand Prix immer missverstanden. Einerseits hatte man es schwer, verständlicherweise. Margot Hielscher, die alte Ufa-Dame, trat zweimal an und fand sich jeweils unter „ferner sangen“ wieder. Mit den Deutschen sei man nicht gern ins Gespräch gekommen, erzählt sie, der Krieg … Auch Katja Ebstein weiß dies zu überliefern. 1970, als sie mit „Wunder gibt es immer wieder“ in Amsterdam an den Start ging, war sie als Deutsche eher ungelitten. 1980, sagt sie, 10 Jahre darauf, als sie mit „Theater“ in Den Haag dabei war, hatte sich die Distanz stark verkleinert.

Der Irrtum aller Deutschen bis auf Guildo Horn und Stefan Raab war, einerseits nicht zu verstehen, dass Schlager very German ist, andererseits aufgeplusterte Ansprüche nach gehobener Lyrik bestraft wurden, etwa Walther Andreas Schwarz, beim deutschen Debüt 1956, mit „Im Wartesaal zum großen Glück“: ein existenzialistisches Liedmonstrum voll Selbstmitleid.

Drittens: Die Popmusik. „Chanson“ ist das Wort, das die Deutschen übersetzen mit „nicht oberflächlich“ oder „gehobenes Lied“. Falsch. Chanson heißt schlicht Lied. Die Eurovision hieß die Grand-Prix-Länder immer nur, ein Lied zu schicken, wie auch immer es beschaffen sei. Ossi Runne, der legendäre finnische Grand-Prix-Dirigent der Siebziger und Achtziger, sagte einmal: „Wir würden ja auch gern mit einem Lied gewinnen, das an die Harmonien Sibelius’ anknüpft und textlich die Tradition unseres Nationalepos der ‚Kavala‘ belebt. Aber wir würden damit noch öfter Letzter werden.“ Die Engländer wussten meist, dass es nicht auf Shakespeare’sche Textgüte und brittenartige Musik ankommt – und schickten lange ihre besten Popkünstler. Sandie Shaw, Cliff Richard oder Olivia Newton-John. Meist lagen sie vorn. Ihren Liedern war allen funkelnden Oberflächen zum Trotz ein Zauber eingewoben: Die Deutschen haben die Rezeptur wie die Finnen, Portugiesen oder Isländer nie ganz begriffen – auch die Schweden erst seit Abba.

Viertens: Die Punktewertung. Malta das gleiche Punktekontingent wie Russland? Der Grand Prix ist absurd. Und: Wie kann man überhaupt Musik zur Abstimmung stellen? Das geht nicht? Geht doch. Seit 1956. Früher erledigten den Job Jurys, heute läuft das per Publikumsabstimmung, den TED. Seit 1975 ist die Abstimmung die gleiche: Das in einem Land beliebteste Lied erhält zwölf Punkte, das zehntbeliebteste bekommt noch einen Zähler, der Rest gar nichts. Die Prozedur lebt davon, dass man meist mit den Resultaten nicht einverstanden ist. Das ist normal.

Fünftens: Die Rituale. Die Punkte gehören dazu, klar, aber auch der Umstand, dass nicht wie in einer Clipshow nur Lieder abgespult werden. ModeratorInnen gehören dazu, Ohrringe, Kleider, Frisuren, und Stripeinlagen (Lill Lindfors 1985 in Göteborg). Außerdem zwischen den Liedern kleine Filme (Umbaupausen auf der Bühne!), die uns die Länder zu den Liedern vorstellen. So begannen wir, Irland zu lieben oder Paris oder Deutschland. Die Ukraine zeigte im Mai, wie schön sie ist, auch außerhalb Kiews – hilfreich, um der Asylmissbrauchspropaganda (Visaaffäre!) andere Bilder entgegenzustellen.

Sechstens: Die Friedensstiftungen. Die Türkei und Griechenland gaben sich bis in die Neunziger hinein nur selten Punkte. Inzwischen findet man sich normal und befindet nur über die Lieder. Israel glaubt sich immer antisemitisch heimgesucht, auch wenn seine Lieder einfach nur dumpf sind. Punkte gibt’s aber, zumal in Zeiten von TED, für gute Songs, nicht für Gesinnung. Osteuropa war glücklich, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs beim Grand Prix mitmachen zu dürfen. Politik war beim Grand Prix selten im Spiel – immer nur in der Fantasie. Aber: Die Niederlande hätten 1969 wegen General Franco das Festival in Madrid beinahe abgesagt. Singen beim Diktator? Nein danke. Man kam doch. Gut so. Lenny Kuhrs „De troubadour“ konnte gewinnen. Für die Niederlande.

Siebtens: Der TED. Früher stimmten Juroren ab, exklusiv. Kritiker wenden ein, ohne Juroren sei kein Niveau mehr vorhanden. Die Wahrheit ist: Sie glauben an ihren besseren Geschmack. Vor allem aber: Juroren wurden willkürlich ausgesucht. Das ist mit demokratischen Gepflogenheiten unvereinbar. Seither meckern die Grand-Prix-Verächter noch mehr: Pop ist ihnen immer ein Verdachtsfeld geblieben.

Achtens: Die Sprachen. Früher war Westeuropa französisch geprägt. Als die kleinen Länder Ende der Neunziger dafür sorgten, nicht mehr in ihrer Landessprache singen zu müssen, um sprachlich nicht allzu bizarr zu wirken, war es um das Französische geschehen. Die Letzte, die in dieser Sprache gewann, war Céline Dion, 1988 für die Schweiz. Englisch ist die Lingua franca des Pop und also des Eurovision Song Contest, wie das Festival neuerdings heißt. Aber natürlich kann man auch in einer anderen Sprache gewinnen. Zuletzt geschah das 1998, als Dana International mit „Diva“ auf Hebräisch obsiegte.

Neuntens: Die Sieger. Verschwörungstheorien gibt es um den Grand Prix ohnehin genug. Dass der Osten zusammenhält (stimmt nicht), dass die Deutschen benachteiligt werden (denken sie ohnehin immer), dass die Sieger von der Musikindustrie gekauft wurden … Quatsch. Gewinnen kann nur, wer auf der Bühne ein Lied hat, das nicht stark experimentell klingt, aber doch frisch und zeitgenössisch. Sieger müssen auf der Bühne authentisch wirken und nicht zu siegessicher. Cliff Richard gewann 1968 mit „Congratulations“ wohl nicht, weil er tat, als hätte er schon alles im Sack. Und man kann auch ohne Sieg Karriere machen. Joy Fleming etwa. Mit „Ein Lied kann eine Brücke sein“ landete sie 1975 ganz weit hinten – und erntete Trost en gros.

Sieger waren übrigens nur dann keine One-Hit-Wonder, wenn sie hart weiterarbeiteten. Hans R. Beierlein, Manager von Udo Jürgens bei dessen Triumph 1966 in Luxemburg mit „Merci Chérie“, sagte: „Mit einem Eurovisionssieg hat man nur einen Zeh in der Tür. Mehr nicht.“ Abba, Céline Dion, Vicky Leandros und Udo Jürgens haben das verstanden, Marie N (2002), Tanel Padar & Dave Benton (2001) oder Eimear Quinn (1996) nicht. Sie ruhten sich auf ihrem Lorbeer aus – und merkten nicht, wie sie mit ihm selbst verwelkten.

Zehntens: Die Magie. Der Grand Prix Eurovision war nie cool. Konnte er auch nicht sein. Coolness ist die Domäne von Jungen und Juvenilen. Der Grand Prix Eurovision ist die einzige generationenübergreifende Show: Da stimmen eben auch die Eltern, Omas und Opas ab. Wer gewinnt, hat immer Recht. Früher schrieben TV-Zuschauer an den Hessischen Rundfunk, etwa nach dem Sieg von Sandie Shaw, der Barfüßigen: „Hottentottenmusik“ oder „Neger, nur Neger“. Sieger, die die meisten gut fanden, heißen so: Sertab Erener 2003 für die Türkei, Abba 1974 für Schweden oder 2000 die dänischen Olsen Brothers. Einigkeit war selten. Typisch! Aber: Man lernte, andere Stile zu bestaunen („So klingt Luxemburg?“, „In Italien tragen die wohl immer Anzüge?“) und Europa vor dem Fernsehschirm zu erkennen.

Elftens: Europa. Hat sich angenähert. Früher wirkten Norweger auf Spanier wie querschnittsgelähmt auf der Bühne – und Portugiesen für Finnen hampelig. Inzwischen verstehen alle was von Euro-Pop. Dänemark macht auf Gypsie Kings, Malta auf Abba-Sound. England klingt nicht mehr besonders.

Zwölftens: Die Zukunft. Unkaputtbar. Auch wenn, hoffentlich, demnächst Länder der arabischen Sphäre mitmachen. Sie werden dabei sein, ohne Israels Ausschluss zu fordern. Irgendwann werden sie gewinnen. Mit zwölf Punkten aus Tel Aviv. Das ist vielleicht nicht cool. Aber cool sein kann jeder.

Am kommenden Sonnabend, dem 22. Oktober, findet in Kopenhagen eine Show zum 50. Jubiläum des Eurovision Song Contest statt: „Congratulations“. Übertragen wird die Show in Deutschland allerdings nur in den Dritten Programmen des WDR und des SWR. Ab 21 Uhr JAN FEDDERSEN, 48, taz-Autor, veröffentlichte 2002 das Buch „Ein Lied kann eine Brücke sein“ (Hoffmann und Campe); er lebt in Berlin. IVOR LYTTLE, 46, gebürtiger Nordire, Schifffahrtskaufmann und Herausgeber des Grand-Prix-Fanzines Euro-Song-News, lebt in Bremen