Den Europäer gibt es nicht

AUS BRÜSSEL RUTH REICHSTEIN

Die modernsten Europäer leben in den Niederlanden und in Skandinavien. Denn sie sind am tolerantesten, was Homosexualität und Scheidung betrifft. Die glücklichsten Europäer sind dagegen die Iren. Das sind einige Aussagen des Europäischen Werte-Atlas, den eine Forschergruppe von der niederländischen Universität Tilburg jetzt herausgegeben hat.

Knapp 40.000 Menschen in 33 europäischen Ländern wurden nach ihren Wertevorstellungen befragt – von Religion und Kirche über Familie und Arbeit bis hin zu Demokratie und Toleranz. Die Ergebnisse zeigen vor allem eines: DEN Europäer gibt es nicht. „Europa ist nur auf der politischen und vor allem der wirtschaftlichen Ebene eine Einheit“, sagt Loek Halman, einer der Autoren der Studie. „Die moralischen Werte dagegen tendieren auseinander.“

Dies zeigt sich besonders beim Thema Frau: Für die Europäerin ist es geradezu unmöglich, den Erwartungen der Gesellschaft gerecht zu werden. Einerseits soll sie zum Haushaltseinkommen beitragen, also arbeiten gehen. Das meinen zum Beispiel über 70 Prozent der befragten Deutschen. In Belgien und Großbritannien dagegen lehnt immerhin ein Drittel der Umfrageteilnehmer diese Aussage ab. Mit anderen Worten: Sie wollen, dass die Frau zu Hause bleibt. Das ist aber die Ausnahme. Im Durchschnitt befürworten über 50 Prozent der Befragten, dass beide Partner gemeinsam den Geldbeutel füllen.

Andererseits will die Mehrheit der Befragen aber auch, dass sich die Mutter um ihre Kinder kümmert. „Sobald Kinder im Spiel sind, werden die Menschen unglaublich konservativ“, meint Loek Halman. Auf die Frage, ob ein Kind im Vorschulalter leidet, wenn seine Mutter arbeitet, antworten über 70 Prozent der Befragten in Griechenland, Italien, Malta und Polen mit Ja. In Dänemark sind es nur 18 Prozent.

Während 90 Prozent der Letten und Litauer davon überzeugt sind, dass eine Frau zum Glücklichsein ein Kind braucht, sehen das nur 8 Prozent der Niederländer genauso. Sie meinen, eine Frau finde ihre Erfüllung eher im Berufsleben. Und so lautet eines der Ergebnisse der Studie: Während die Bürger Europas grundsätzliche Werte wie Demokratie und Toleranz teilen, scheiden sich die Geister beim Thema Frau. Die Wertunterschiede sind besonders groß zwischen dem Norden und dem Süden sowie zwischen Ost-und Westeuropa.

Ähnliches gilt dann auch bei der Haltung zu Ehe und Scheidung. Auf einer Skala von 0 bis 10 – 10 bedeutet Akzeptanz, 0 Ablehnung – kommen die Schweden auf immerhin 7,8 Punkte. In den Niederlanden sind es 6,6 und in Deutschland immerhin noch 5,9. Damit liegt Deutschland knapp über dem Durchschnitt von 5,4 Punkten. Besonders gering ist die Akzeptanz zum Beispiel in den baltischen Staaten, in Polen und Armenien.

Noch größer sind die Unterschiede in der Einstellung zu Homosexualität. Nur 10 Prozent der Portugiesen vertrauen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. In den Niederlanden werden sie dagegen von fast 80 Prozent der Bevölkerung akzeptiert.

Die Äußerungen des italienischen Exkandidaten für den Posten als EU-Innenkommissars, Rocco Buttiglione, waren also gar nicht so abwegig wie vom EU-Parlament im vergangenen Herbst angenommen. Der Italiener hatte bei seiner Vorstellung im Parlament die Homosexuellen stark kritisiert. Der Platz der Frau sei nach wie vor in der Küche, meinte Buttiglione – wie es offensichtlich auch zahlreiche Europäer tun.

Grundlage für die Erstellung des ungewöhnlichen Atlas sind die seit 1981 durchgeführten Befragungen über Werte in Europa, die an der Tilburger Universität entwickelt wurden. „Nach den ersten Wahlen zum EU-Parlament 1979 wollten wir herausfinden, ob es europäische Werte gibt“, sagt Loek Halman. Den Anstoß gab damals ein jesuitischer Wissenschaftler. Für ihn war es besonders wichtig, zu erforschen, ob die Säkularisierung in Europa so voranschreitet, wie man landläufig annahm.

Mittlerweile spielen die religiösen Fragen nur noch eine geringe Rolle. Aber nach wie vor gehören sie zu den Dingen, die in Europa für besonders große Meinungsunterschiede sorgen. So halten zum Beispiel nur 36 Prozent der Franzosen Religion für wichtig in ihrem Leben. 55 Prozent geben an, nie zu beten. Ganz anders sieht das in Polen oder Rumänien aus: Für 44 Prozent der Polen nimmt die Religion eine sehr wichtige Stellung ein. In Malta beten 78 Prozent der Menschen mindestens einmal in der Woche außerhalb des Gottesdienstes.

Und auch die Türken sind insgesamt religiöser und konservativer als die übrigen Europäer. Auf der Skala von 0 bis 10 erreicht die Akzeptanz von Scheidung bei dem EU-Beitrittskandidaten nur 3,6 Punkte. Das ist der niedrigste Wert aller 33 Länder. Allerdings sind nur knapp 12 Prozent der Türken dagegen, dass Frau und Mann gleichermaßen zum Haushaltseinkommen beitragen sollen. Die Frauen sollen also durchaus arbeiten gehen.

Ansonsten sind die Wertunterschiede jedoch geringer als erwartet. Immerhin 1,5 Prozent der Türken fühlen sich an erster Stelle als Europäer. Sie liegen damit auch nicht viel schlechter als etwa die Rumänen oder Portugiesen mit jeweils 1,6 Prozent.

Und in einer Kategorie sprinten die Türken den bisherigen EU-Staaten sogar weit davon: In der Türkei ist das Arbeitsethos besonders hoch. Auf der Karte im Atlas ist nur dieses Land dunkelrot gefärbt. Das bedeutet, über 75 Prozent der Türken stimmen der Aussage „Menschen, die nicht arbeiten, werden faul“ zu. Im europäischen Durchschnitt meinen das nur 63 Prozent. Und über 60 Prozent der befragten Muslime sind sogar der Auffassung, Arbeit müsse immer vorgehen, auch wenn die Freizeit darunter leide. Das könnte sich so mancher Niederländer oder Schwede zum Vorbild nehmen. Im Norden Europas sieht es mit dem Arbeitsethos nämlich besonders schlecht aus.

Angesichts all dieser Unterschiede ist für den Wissenschaftler Loek Halman klar: „Es wird niemals eine europäische Identität geben. Das zu versuchen ist vollkommen lächerlich. Wir könnten uns genauso gut fragen, was wir mit den Chinesen gemeinsam haben.“

Tatsächlich fühlt sich nur in Luxemburg ein relativ großer Teil der Bevölkerung als Europäer. Über 30 Prozent nennen bei der Frage nach ihrer Identität an erster oder zweiter Stelle den Kontinent. In allen anderen Ländern ist die Identifikation mit dem eigenen Land, der Region oder der Stadt noch viel stärker. „Oft fühlen sich die Menschen sogar eher als Weltbürger, aber bestimmt nicht als Europäer“, sagt Halman. In Deutschland bezeichnen sich nur zwischen 5 und 10 Prozent als „europäisch“.

Besonders schlecht sieht es für die europäische Identität in Russland, der Ukraine und Rumänien aus. Nur knapp 2 Prozent identifizieren sich hier an erster Stelle mit Europa. Das Gesamtergebnis der Befragung: Von 40.000 Teilnehmern der Studie bezeichnen sich lediglich 2.000 als Europäer.