Probleme mit dem leeren Ort der Macht

Politische Projekte? Die sind nun erst einmal abgesagt, links wie rechts. Stattdessen gründet sich gerade eine große Koalition, die sich als pragmatische Sachverwalterin objektiver Wirtschaftsprobleme definieren wird. Ob das wohl ausreicht, um die Bürger Politik als ihre Sache begreifen zu lassen?

VON ISOLDE CHARIM

Jetzt gibt es also in Deutschland „Sowjetmacht + Elektrifizierung“. Natürlich nicht in dem Sinne, dass der Sozialismus ausgebrochen wäre. Aber nun, nachdem sowohl rechter wie linker Aufbruch gescheitert sind oder einfach nicht stattgefunden haben, gibt es eben eine große Koalition. Dies sei der Einzug von Pragmatik und Effizienz in die Politik, so deren Befürworter. Was aber bedeutet Pragmatik im Politischen? Zunächst einmal die Annahme, es gäbe wirtschaftlich bedingte Probleme und diese seien nicht nur real und objektiv, sondern auch so eindeutig, dass sie keinerlei politische Definition bräuchten. Die anstehenden Probleme bedürften demnach nur eine Art technischer Kompetenz zu ihrer Lösung – als könnte der reine Sachverstand direkt regieren. Dieser Vorstellung einer Politik, angesiedelt auf der Ebene der „Objektivität“, einer Politik, die ihre instrumentelle Rationalität nur durchsetzen müsse, unterliegen die Freunde dieser neuen Regierungsform. In diesem Sinne nun also: „(Sowjet)macht + Elektrifizierung“.

Gegen solch ein reduziertes Politikverständnis gilt es in Erinnerung zu rufen, dass Politik eben nicht reine Sachwalterschaft ist. Politik hat eine symbolische Dimension – auch und gerade in der Demokratie. Diese ist gar nicht die nüchterne Regierungsform eines rein formalen Prozederes, wie heute so oft beklagt wird! Tatsächlich geht auch die Demokratie weit darüber hinaus, liegt doch ihre wesentliche Dimension im Symbolischen. Sie war es, die gegenüber allen ihr vorangehenden Herrschaftsformen einen symbolischen Ort der Macht konstruiert hat, dessen wesentliches Merkmal darin besteht, leer zu sein – also keine dauerhafte Vereinnahmung, sondern nur wechselnde, vorübergehende Besetzungen zu kennen. Aufgrund seiner strukturellen Leere bleibt die Macht ein symbolischer Ort, der von ihren realen Organen unterschieden ist. Die rationale Ordnung der Demokratie ist somit ein Effekt ihres symbolischen Charakters, der dazu dient, Irrationalitäten zu kanalisieren. Denn das Politische in der Demokratie ist gleichzeitig eine Bühne, auf der politische Konflikte repräsentiert, also übersetzt: dargestellt werden können. Das ist eine enorme Errungenschaft. Dabei sind beide Momente wichtig: sowohl die Repräsentation, also die Übertragung realer Konflikte in die symbolische Form der Politik, als auch damit einhergehend die Anerkennung der Tatsache, dass es diese Konflikte gibt.

Dies sei auch angemerkt in Bezug auf jene anhaltende Debatte, wonach die Demokratie nur dann über einen reinen Modus vivendi hinauszugehen vermag, wenn sie sich vorpolitischen Ressourcen wie der Religion zuwendet (zuletzt hat Jürgen Habermas sich so einer Position angenähert): Demokratische Politik kann diesen Überschuss aber sehr wohl aus sich selbst erzeugen, wenn es zu einer gelungenen Repräsentation politischer Kräfte und Energien kommt und damit auch zu einem identitätsbildenden Wiedererkennen der Repräsentierten – wenn also Konflikte dargestellt und politisch ausagiert werden können. Das bedeutet nichts anderes als den Entwurf eines politischen Projekts.

Wenn man sich nun hingegen einer Politik der reinen Pragmatik zuwendet, die sich als objektive Problemlösung missversteht, dann wird es unmöglich, die gesellschaftlichen Spaltungen zu repräsentieren, und die Konflikte erscheinen demnach als Probleme der ganzen Gesellschaft. In genau diesem Setting findet die Stilisierung einer großen Koalition statt.

Was sie damit einzieht, ist die Differenz zwischen der symbolischen Ebene der Macht und ihren realen, aktuellen Ausformungen. „Der Bezug auf einen leeren Ort der Macht weicht dem unerträglichen Bild einer tatsächlichen Leere“ (Claude Lefort). Die Autorität der Entscheidungsträger, der zeitweiligen Inhaber der Macht, geht verloren: es bleibt nur das Bild von Individuen, die ihre Machtgier befriedigen. Ist das nicht das Bild, das sich derzeit in Deutschland präsentiert? Symptomatisch etwa an der freundlichen Debatte um die Richtlinienkompetenz, wo die Rivalitäten untereinander zeigen, wie verwaist der Ort der Macht bleiben wird und dass jene, die im Koalitionsausschuss sitzen, nur ein Bild der Leere abgeben werden. Es zeigt sich auch ex negativo am scheidenden Kanzler, der im Abgang noch so etwas wie eine Aura zurückgewinnt und deren zukünftige Abwesenheit noch deutlicher macht.

Das Argument nun, dies sei keine dauerhafte Lösung, dann kämen Neuwahlen und damit der tatsächliche Neustart in die eine oder andere Richtung, ist da nicht wirklich tröstlich. Zum einen war dies bereits die Geste der letzten, eben stattgefundenen, Wahlen. Zum anderen bedeutet solch ein permanenter Aufschub keine zukünftige Lösung, sondern nur einen gegenwärtigen Triebstau. Und solcher ist auf Dauer unbefriedigend.