Im Papiermüll

Murks den Cervantes: Auf ganzer Linie scheitert Andreas Kriegenburgs Inszenierung „Quixote in der Stadt“ am Hamburger Thalia-Theater

VON TILL BRIEGLEB

Die Menschheit zählt sicherlich zu den bizarrsten Arten im All. Manche Menschen sitzen zum Beispiel drei Stunden in einem großen, heißen Raum und blicken mehr oder weniger interessiert auf einen Berg Papiermüll, in dem sich ein alter Mann mit Papierrüstung und Papierlanze lächerlich macht. Dazu lauschen sie auf Texte, die nicht die geringste Hirnaktivität reizen, gähnen im Unbehagen über die Kultur, ertragen dank irgendwelcher unerforschter Duldungskräfte schlechte Musik besser als schlechtes Essen, überwachen aber das ganze Geschehen treu bis zum Ende, anstatt dem natürlichen Impuls jedes anderen Bewohners des Universums zu folgen, der aufstehen würde, um sich interessanteren Dingen zuzuwenden. Diese Menschheit baut sich die so genannten Theatersäle sogar so eng bestuhlt, dass man – selbst wenn man wollte – gar nicht mittendrin aufstehen könnte, ohne seine ganze Nachbarschaft zu belästigen.

Aber anscheinend findet die zweibeinige Spezies von der Erde einen perversen Gefallen daran, sich von Regisseuren und Autoren deren Privatmarotten vorführen zu lassen, die zum Beispiel darin bestehen, dass man einen berühmten Roman so lange mit verantwortungslosem Gegenwartsgeschwätz und kindischen Imperativen überzieht, bis er als aktualisiert gelten kann – was im Klartext nichts anderes bedeutet, als dass zwei Menschen frei von intellektueller Selbstbeschränkung ihre Fantasie vor dem Kollektiv ausleben dürfen. Dort, wo die eigene nicht langt – und das tut sie in der Regel von Anfang bis Ende nicht – wird dann zitiert, Bekanntes verfremdet, gnadenlos abgekupfert. Und damit niemand merkt, dass die Verantwortlichen weder das verwendete Material in seiner Komplexität verstanden haben noch die künstlerische Fähigkeit besitzen, zwingende Analogien zu finden, hat die Menschheit eine Art Generalablass für ihre Kreativen erfunden, in dessen Besitz man frei von Schuld für den ganzen Schwachsinn ist, den man für teuer Geld herstellt. Diesen Freibrief nennt der homo wurschticus Poesie.

Andreas Kriegenburg und Dea Loher, die mit dem Musiker Laurent Simonetti aus Cervantes’ Roman „Don Quijote“ am Hamburger Thalia-Theater ein Murksical gemacht haben, besitzen von diesen Freibriefen sogar so viele, dass es auch noch für die Bühnendekoration langt. Knöcheltief bedeckt das Papier den Boden, in der Pappmaché-Verkleidung der Figuren fand die Briefe ebenso Verwendung wie als Kritzeleien an der Wand. Poesie, wo man hinsieht, und wo das als Entschuldigung für klischeehafte Rührseligkeit noch immer nicht langt, kommen dann echte Kinder zum Einsatz. Die singen zum miesen Sound der schlechten Musik von Simonetti peinliche Texte von Dea Loher wie „Lass uns aufstehen und sehen, lass uns weitergehen und träumen“, gegen die sogar Herman van Veen als kritischer Liedermacher bestehen könnte.

In dem, was von Cervantes’ Abgesang auf ritterliche Ideale und menschliche Verwirrtheit in dieser Version noch übrig ist, finden sich viele unverdaute Brocken kritischer und belehrender Befindlichkeiten, die den Titel „Quixote in der Stadt“, den die drei ihrer Version gegeben haben, rechtfertigen sollen. Zum Beispiel Kapitalismuskritik, wenn eine so genannte „Bizzness“-Frau im Entertainer-Anzug den ganzen Diskurs über neoliberale Wirtschaftsstrategien in die stetig wiederholte Liedzeile steckt: „Was keinen Nährwert hat, wird abgeschafft“. Der abgeschlaffte Ritter antwortet darauf: „Es kann gar nicht genug Überflüssiges geben“.

Und weil es halt überhaupt irgendwie darum geht, dass der Ritter von der traurigen Gestalt auch ein Symbol für unsere Gegenwart ist, müssen die Menschen, denen Quixote begegnet, singen wie Rammstein, Nina Hagen oder die Alte Deutsche Welle, sozialkritisch rappen, als kämen sie von der Gewerkschaft Ver.di, oder mit mitleidsvoller Stimme sprechen, als lebten sie unter der Hypnose der Caritas. Damit das Ganze aber dann doch lieber Kunst und nicht Kirchentag wird, erinnert sich Kriegenburgs Ausstatterin Johanna Pfau ganz schamlos an Robert Wilsons großen Erfolg an diesem Theater mit „Black Rider“ und verwandelt dessen klaren, zeichenhaften Stil in ein großes unordentliches Kinderzimmer mit puppenhaften Aufsagefiguren.

Hans Löw als Quixote bewegt sich auf dieser geistlosen Müllkippe unbrauchbarer Einfälle immerhin noch mit der Würde eines Gespenstes. Dank seines großen Talents zur ironischen Geziertheit verursacht er ab und zu sogar sekundenlang Humor und Unterhaltung. Doch danach wirken schnell wieder Klamaukmechanik und melodiefreies Gesinge auf die Spaßreflexe des Publikums und sorgen dort aus unerfindlichen Gründen für die Niederhaltung der natürlichen Empörung. Denn am Ende schlägt die Erdbevölkerung ihre Handinnenflächen gegeneinander, was eine Art Ohrfeigengeräusch erzeugt. Doch dieser Protest wartet wirklich sehr lange, um sich zu äußern. Allerdings haben auch einige Menschen mit der Imitation einer Schiffstute geantwortet. Denen hat es scheinbar gefallen. How bizarre, how bizarre.