Seid willkommen, Voyeure

Die heimlichen und die unheimlichen Bilder: Die Galerie C/O Berlin präsentiert „Enthüllungen“, 28 Fotografien des New Yorker Künstlers Andres Serrano

In den Vereinigten Staaten von Amerika mag es vergleichsweise einfach sein, einen Kunstskandal anzuzetteln. Auch wenn es Künstlern zunehmend schwerer fällt, sich originelle Tabuverletzungen auszudenken. Sex, Tod und Religion sind immer noch die Klassiker, wenn es darum geht, die Köpfe des konservativen Establishments rot anlaufen und den selbst ernannten Schützern der Nation den Mund schäumen zu lassen. Mit der Fotografie eines in Urin getauchten Kruzifixes gelang dem New Yorker Künstler Andres Serrano 1989 der Sprung aus der Anonymität Manhattans in eine Anhörung des Senats. „Blasphemie“, geiferte der republikanische Senator Jesse Helms und beschimpfte Serrano als Trottel.

Mit einem Mal berüchtigt, wurde er mit seinen die Grenzen des guten Geschmacks ausreizenden Fotoserien als Skandalnudel durch die Magazine gereicht. Mit einem sicheren Händchen für Provokation hatte Serrano auch in Europa Erfolg. Bei einer Ausstellung in den Niederlanden Ende der Neunzigerjahre blieb die Fotografie einer in den Mund eines Mannes urinierenden Frau nicht lange Plakatmotiv. Aufgebrachte Bürger verlangten erfolgreich die Zurücknahme des Plakats und schufen ihm damit ungeahnte Publicity. In Berlin ist es bislang ruhig geblieben, obwohl Andres Serrano nun erstmals eine Einzelausstellung in Deutschland hat.

C/O Berlin zeigt mit 28 Fotografien eine Auswahl aus drei Zyklen des 1950 geborenen Serrano. Für „The Morgue“ verschaffte er sich Zugang zu einem Leichenschauhaus und rückte menschlichen Kadavern zu Leibe. Ertrunkene oder Getötete, Brand- oder Selbstmordopfer, Meningitis- oder Aidspatienten. Serrano bahrt die Leichen vor seiner Kamera auf wie klassizistische Skulpturen. Schonungslos morbid fokussiert er blutige Schnittwunden, eingefallene Augen oder Verwesungsflecken auf der Haut. Großformatig, detailgenau und in brillanten Farben. „History of Sex“ porträtiert in bizarr gestellten Szenen die Bandbreite sexueller Möglichkeiten. Unhierarchisch lädt Serrano den Betrachter ein zum voyeuristischen Blick auf Sodomie, Selbstbefriedigung und Schmerzwerkzeuge, anale und orale Praktiken, verdrehte Geschlechterverhältnisse und verrenkte Körper – all dies stilisiert und hochglänzend wie Coverfotos.

Die neueste Serie trägt den Titel „America“. Ob ironisch oder patriotisch, Serrano besinnt sich auf die kulturelle und ethnische Vielfalt der amerikanischen Bevölkerung, deren historisches Ziel es ja ursprünglich einmal war, sich im melting pot zu vereinigen. „America“ sind einhundert knallbunte Porträts, die ganz optimistisch darauf zu vertrauen scheinen, dass es die Mischung macht. Einträglich vor farbenfroh waberndem Hintergrund vereint, lächeln hier Feuerwehrmann und Ordensschwester, Obdachloser und Neonazi, Kind und Greis, Promi und No-Name um die Wette.

Andres Serrano verschiebt die gewohnten Darstellungsmodi und balanciert dabei auf einem schmalen Grat zwischen Kitsch und Pornografie, Ekel und Neugier, Absturz inklusive. Aber zugleich holt er die heimlichen und unheimlichen Bilder aus unseren Köpfen auf eine öffentliche Ebene. Ob wir wollen oder nicht. MARCUS WOELLER

Andres Serrano: „Enthüllungen“. Bis 4. Dezember 2005 bei C/O Berlin, Linienstr. 144, Berlin-Mitte