Lesen gegen die Ungerechtigkeit

Kostenlose Schulbücher sind in NRW nicht für alle ALG-II-Empfänger garantiert. Eine Gesetzeslücke benachteiligt einstige Bezieher von Arbeitslosenhilfe. Pragmatische Lösung: Spenden sammeln

Von MANFRED WIECZORECK

Auch Ex-Pornostar Kelly Trump ließ sich nicht lange bitten und las in der Gelsenkirchener Bleckkirche gegen die Ungerechtigkeit einer Gesetzeslücke an. Stein des Anstoßes: Das Landesschulgesetz NRW behandelt nicht alle Arbeitslosengeld II-EmpfängerInnen gleich. Wer aus der Sozialhilfe ins Arbeitslosengeld II (ALG II) rutschte, muss für Schulbücher nichts zuzahlen. Wer aber aus der Arbeitslosenhilfe kommt, schon.

Werner Schlegel, Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller im Bezirk Gelsenkirchen, will sich damit nicht abfinden. Je nach Schultyp können die Nachzahlungen bis zu 80 Euro betragen. Gemeinsam mit der Gewerkschaft Ver.di und dem örtlichen Industrie- und Sozialpfarrer Dieter Heisig richtete er ein Spendenkonto ein und organisierte eine AutorInnenlesung zu Gunsten der ALG II-EmpfängerInnen. Daran beteiligte sich auch die gebürtige Gelsenkirchenerin, die unter dem Künstlernamen Kelly Trump in der Pornobranche Karriere machte und in Kürze ihre Biografie veröffentlicht.

Schulministerin Barbara Sommer (CDU) kündigte bereits an, die Gesetzeslücke zu schließen und die Lernmittelfreiheit für alle ALG II-EmpfängerInnen zur kommunalen Pflichtaufgabe zu machen. Für das laufende Schuljahr sei die Zeit zu knapp gewesen, so Sommer. Deshalb sollen die jeweiligen Kommunen pragmatische Lösungen vor Ort finden. Es war übrigens die alte rot-grüne Mehrheit im Landtag, die im Februar das neue Schulgesetz für NRW beschloss.

Pragmatische Lösungen – nicht überall gehen sie so leicht von der Hand wie in der Landeshauptstadt Düsseldorf. „Unser CDU-Oberbürgermeister verkauft sich ja als der große Haushaltssanierer, profitiert aber von rot-grünen Vorarbeiten. Jetzt gewährt er großzügig Lernmittelfreiheit für alle“, sagt Birgitta Ruhland, Referentin für Sozialpolitik der grünen Ratsfraktion in Düsseldorf.

In Köln konnte sich die PDS/Offene Liste mit ihrem Vorstoß für kostenfreie Schulbücher nicht durchsetzen. Statt dessen fordert der Kölner Rat die Landesregierung in einer Resolution auf, das zu tun, was sie schon längst angekündigt hat, und baldmöglichst eine endgültige und Rechtssicherheit schaffende Regelung im Schulgesetz zu verankern. Aber: „Mehrbelastungen für die Städte und Gemeinden sind durch das Land auszugleichen“, verlangt die gemeinsam von SPD und CDU eingebrachte Resolution.

In Dortmund konnte erfolgreicher Druck gemacht werden. Der Gewerkschaftsdachverband DGB trommelte schon während der Sommerferien für kostenlose Schulbücher. Letztlich mit Erfolg. Duisburg und Essen übernehmen die Kosten nicht, während der Kreis Recklinghausen sich die Lernmittelfreiheit rund 200.000 Euro kosten lässt.

Herne hat keinen genehmigten Haushalt und unterliegt der Kommunalaufsicht durch die Bezirksregierung. Doch auch hier hat man 50.000 Euro für Schulbücher zusammengekratzt.

Was den ALG II-EmpfängerInnen zu Gute kommt, muss an anderer Stelle eingespart werden. Denn Städten ohne genehmigten Haushalt ist es nicht erlaubt, die entstehenden Mehrkosten für kostenlose Schulbücher zusätzlich als freiwillige Leistungen zu übernehmen. Auch Gelsenkirchen hat keinen genehmigten Haushalt. Dennoch haben die Gelsenkirchener Grünen für die kommende Ratssitzung beantragt, kostenlose Schulbücher für alle ALG II-EmpfängerInnen zu ermöglichen, ohne dabei an anderer Stelle zu sparen.

„In der Sozialpolitik, bei der Umweltpolitik oder auch bei der Jugendhilfe sind wir schon am unteren Limit“, erklärt ihr sozialpolitischer Sprecher Burkhard Wüllscheidt und zitiert aus dem Antrag: „Der Rat der Stadt geht davon aus, dass durch die angekündigte gesetzliche Definition als Pflichtaufgabe entsprechende Mehrausgaben im städtischen Haushalt von der Kommunalaufsicht als berechtigt angesehen werden.“

Werner Schlegel und seine MitstreiterInnen haben bisher rund 2.000 Euro an Spenden sammeln können. Viel zu wenig, um Schulbücher für alle zahlen zu können. Jetzt hofft er auf den Rat der Stadt Gelsenkirchen: „Wir können die Spenden im Soli-Topf gut gebrauchen. Für eine Familie, die von ALG II leben muss, ist schon eine defekte Waschmaschine eine Katastrophe.“