Kampf um Türkisch-Wien

AUS WIEN RALF LEONHARD

Der Mann am Klavier spielt „La Paloma“. Wie er da sitzt, schmächtig, in Jeans und mit schulterlangen blonden Locken, wäre er früher als Hippie durchgegangen. Heute entlockt er seiner Yamaha-Orgel „O Sole mio“, um das Volk auf die Ankunft des Wahlkämpfers einzustimmen. Passanten, die mit vollen Einkaufstaschen vorbeihasten, bekommen einen winzigen Plüschbären oder einen blauen Kugelschreiber nebst Propagandamaterial in die Hand gedrückt. Ein halbes Dutzend Polizisten nimmt sicherheitshalber Aufstellung. Auch sie bekommen Bärchen, stecken sie verlegen ein. Deftiger Kebabgeruch weht über den Viktor-Adler-Markt in Wiens 10. Bezirk Favoriten.

Vom Poster am Rednerpult lacht der FPÖ-Spitzenkandidat Heinz Christian Strache aus himmelblauen Augen. „Herr im eigenen Haus bleiben“, verkündet sein Wahlplakat in dicken roten Lettern, darunter ragt der gotische Turm des Stephansdoms, seit 600 Jahren Wiens weithin sichtbares Wahrzeichen. „Pummerin statt Muezzin“ fordert ein weiteres Poster. Die Pummerin ist die Glocke des Stephansdoms, deren Original nach 1683 aus den zurückgelassenen Kanonen des osmanischen Belagerungsheeres gegossen worden war.

Für die Wiener Gemeinderatswahlen am Sonntag hat die FPÖ einmal mehr das Wahlkampfthema „Ausländer raus!“ ausgegeben, in verschiedenen Varianten. „Arbeit statt Zuwanderung“, „Deutsch statt Nix versteh’n“, „Freie Frauen statt Kopftuchzwang“ – auf jedem Plakat der Freiheitlichen Partei Österreichs prangt Straches Strahlegesicht. „Wien darf nicht Istanbul werden“ allerdings, auf dem hinter einen finster blickenden SPÖ-Bürgermeister Michael Häupl eine Moschee montiert war und HC Strache vor dem Stephansdom ein „Duell um Wien“ ausrief, musste nach einer gerichtlichen Anordnung entfernt werden. Der ökumenische Rat und andere kirchliche Verbände hatten gegen den Missbrauch religiöser Symbole protestiert.

Auch sonst wird die FPÖ-Propaganda von der großen Mehrheit der Wiener abgelehnt. Die Zeiten, da Bürgermeister Häupl in die dumpfen Töne Haiders einstimmte, um die „Lufthoheit über die Stammtische“ zu verteidigen, sind vorbei, von „Duell um Wien“ kann in diesem Wahljahr keine Rede sein. 28 Prozent holte die FPÖ vor neun Jahren vor allem in den Stammbezirken der Sozialdemokratie. 2001 hielten die Rechtspopulisten immerhin noch 20,2 Prozent. Nach der Abspaltung des Bündnisses Zukunft Österreich (BZÖ) unter Jörg Haider ist das rechtsnationalistische Lager deutlich geschwächt. Aber die scharfen Töne mobilisieren immer noch um die zehn Prozent der Wähler. Für die SPÖ unter Bürgermeister Michael Häupl stellt sich hingegen nur die Frage, wie hoch die Mehrheit diesmal wohl ausfallen mag.

„Ist der schon wieder da?“

Bis zum Gemüsestand von Cemal Yavuz dringt der Wirbel von FPÖ-Mann Strache trotz der potenten Beschallung nicht. „Blödsinn ist das, wenn man Politik und Religion vermischt“, sagt der Einwanderer aus dem türkischen Grenzgebiet zu Syrien. Er lebt schon seit 31 Jahren in Wien und fühlt sich gut integriert. Auch in der Türkei gebe es Politiker, die viel Unsinn reden, aber die bekämen kaum Stimmen. „Die das machen, sind doch deppert“, pflichtet ihm sein Sohn in perfektem Wienerisch bei. Gemüsehändler Yavuz hatte noch gar nicht mitbekommen, dass Strache kommt. „Schon wieder?“, fragt er ungläubig. „Der hat doch vor ein paar Wochen hier schon den Wahlkampf eröffnet.“

Arbeiterviertel wie Favoriten, wo viele Zuwanderer leben, sind noch immer die liebsten Jagdgebiete der blauen Truppe. Als Strache endlich kommt, im blauen Hemd unter dem dunklen Maßanzug, hat sich bereits eine kleine Fangemeinde gesammelt. „Von Jahr zu Jahr kommen mehr ausländische Arbeitskräfte ins Land“, warnt er mit erhobenem Finger vor einem beinharten „Verdrängungswettbewerb“. Dann zieht er über Bürgermeister Häupl und die regierende SPÖ her: „Mit der Staatsbürgerschaft wird in Wien sehr salopp umgegangen“, die werde geradezu verschenkt. „Dann bekommen die eine Gemeindewohnung gleich mit, und die Österreicher müssen warten.“ Strache versucht den Sprachgestus von Jörg Haider zu kopieren, vermeidet aber offen rassistische Schimpftiraden. Das Bild vom hammelbratenden Türken, das sein politischer Ziehvater einst evozierte, lässt er weg. Trotzdem kommt seine Botschaft an. „Jedes Wort, das Sie sagen, ist richtig“, brüllt ein schlecht rasierter Mann aus der Menge. Die Umstehenden signalisieren mit ihrem Applaus, dass sie genauso denken. Sie sind die Globalisierungsverlierer, die Arbeitslosen und Mindestrentner, die längst einen Platz in den umliegenden, Gemeindebauten genannten Kommunalwohnungen gefunden haben und sich eigentlich nicht sorgen müssten.

Oberkrainer für die SPÖ

„Meine private Meinung ist, dass alle, die hier leben und arbeiten, gleichen Zugang zu den Gemeindebauten haben sollen“, sagt Aziz Gülum, SPÖ-Bezirksrat im 12. Bezirk, Meidling. Damit liegt er nicht auf Parteilinie. Denn die rote Stadtregierung hat sich dem – unter Hinweis auf die langen Wartelisten für Inländer – bisher verschlossen. Auf der Meidlinger Hauptstraße veranstaltet die SPÖ ein Kürbisfest. Kinder dürfen Kürbisse für Halloween schnitzen, die Oberkrainer aus der Steiermark spielen eine Volksweise nach der anderen. Dass in Wien zu schnell eingebürgert werde, sei im Übrigen Unsinn, weiß Gülüm: Von den rund 16.800 Menschen, die die Stadt im letzten Jahr einbürgert hat, hätten nur 743 weniger als zehn Jahre hier gelebt.

Bürgermeister Häupl, ein behäbiger Mann mit wohlerworbenem Doppelkinn, ist persönlich gekommen. Er trägt einen roten Schal, schüttelt Hände, unterschreibt Autogrammkarten und wechselt mit dem einen oder der anderen ein paar Worte. SPÖ-Mann Gülüm, der vor 17 Jahren als politischer Flüchtling kam, setzt sich seit langem für Integration der Migranten ein. Er räumt ein, dass von der Stadt noch immer zu wenig unternommen wird, um das Zusammenleben reibungsloser zu gestalten. Aber dass sich die Türken nicht anpassen wollten, sei ein überzogener Vorwurf: „Es gibt in jeder Volksgruppe einen Teil, der nicht integrierbar ist. Aber wenn man sagt, Türken wollten sich nicht integrieren, ist das falsch. In der österreichischen Bevölkerung gibt es aber welche, die wollen Ausländer nicht akzeptieren.“

Außer der FPÖ versuchen alle Parteien, mit Kandidatinnen und Kandidaten mit Migrationshintergrund ihre Offenheit zu zeigen. Für die ÖVP ist die blonde Sirvan Ekici allerdings eher ein Maskottchen. Sie hat nur Chancen, gewählt zu werden, wenn ihre Partei mindestens ein Mandat hinzugewinnt. Gehört wird nicht auf sie. Während sie die langen Einbürgerungsfristen für integrationsfeindlich hält, bastelt ihre Mutterpartei an der Verschärfung des Staatsbürgerschaftsrechts.

Die SPÖ hat mit Nurtan Yilmaz bereits eine gebürtige Türkin im Gemeinderat, und die Grünen haben die Politikwissenschaftlerin Alev Korun auf den sicheren zwölften Listenplatz gesetzt.

Der Kulturverein Atib in der Dammstraße im 20. Bezirk ist ein echtes Stück Türkisch-Wien. Hier wird Tee in kleinen Gläsern serviert, man trifft sich zu türkischen Fußballmatches vorm Satellitenfernseher und pflegt die heimischen Bräuche. Zwischen den eingerahmten Worten des säkularen Staatsgründers Atatürk und einem Foto von der Heiligen Kaaba in Mekka besteht hier offenbar kein Widerspruch. Ein Poster von Fenerbahce Istanbul und eine Vitrine mit Fußballtrophäen beweisen, dass nicht nur religiöse Veranstaltungen stattfinden. Im angeschlossenen Laden bekommt man Lebensmittel, auch Haare schneiden kann man hier lassen.

Wettlauf um Platz zwei

Nach dem Freitagsgebet in der Moschee darf Alev Korun im Vereinslokal zu den Gläubigen sprechen: auf Türkisch, damit ihre Botschaft besser ankommt. Sie erklärt, wer wahlberechtigt ist, wie man den Wahlzettel ausfüllt und wie sich die Grünen für die Anliegen der Migranten politisch stark machen. Die Öko-Partei, die laut Umfragen am Sonntag 18 Prozent erwarten kann, kämpft mit der mächtigen ÖVP um Platz zwei in Wien.

Als Alev Korun zu Ende gesprochen hat, werden Fragen gestellt. Es sind ältere und jüngere Männer, die meisten einfach gekleidet, einer trägt einen langen Bart. Die unverschleierte junge Frau im eleganten Hosenanzug wird respektvoll behandelt. „Sie anerkennen, dass ich es in einem fremden Land zu etwas gebracht habe und sie politisch vertreten kann“, meint sie.

Der Auftritt im Kulturverein war ein Heimspiel für die Jungpolitikerin. Anschließend geht es auf „feindliches Territorium“, den Reumannplatz im 10. Bezirk, wenige Gassen vom Viktor-Adler-Markt entfernt, wo die FPÖ ihre ausländerfeindliche Klientel hat. „Hier sind wir auch schon angespuckt worden“, erzählt Korun.

Diesmal bleiben Angriffe aber aus. Ein paar Kinder stellen sich um die grünen Luftballons an, der Rede der Kandidatin lauschen gerade mal zehn Personen. Immer wieder fällt das Mikrofon aus, und erst die Darbietung einer kurdischen Folkloregruppe, die mit Pfeifen und Trommeln einzieht, lockt neugierige Passanten an. Trotz Kebabbude und anatolischem Juwelier hat es hier nicht den Anschein, dass Wien Istanbul werden könnte. „Eigentlich schade“, meint der Gemüsehändler und erklärte SPÖ-Wähler Cemal Yavuz, „weil dann hätten wir hier das Meer.“