Rache am Klingelton

Was ist neu an der Neuen Musik? Einige der 20 Uraufführungen, die bei den Donaueschinger Musiktagen präsentiert wurden, fanden glückliche Antworten auf diese Frage – und durften sich über ein außergewöhnlich engagiertes Publikum freuen

Interessant wird es, sobald die Komponisten über die klassische Musik distanziert verfügen,statt sie fortschreiben zu wollen

von BJÖRN GOTTSTEIN

Die Donaueschinger Musiktage gehören zu den traditionsträchtigsten Festivals ihrer Art. Hier leistet man sich alljährlich annähernd zwanzig Kompositionsaufträge und den Luxus großer Sinfonieorchester. An jedem dritten Oktober-Wochenende versammelt sich das Musikleben deshalb in Donaueschingen, um sich des Stands gegenwärtigen Komponierens zu vergewissern. Natürlich ist jedem klar, dass 20 mehr oder weniger willkürlich zusammengewürfelte Uraufführungen die zahlreichen Finessen der Gegenwartsmusik nicht spiegeln können. Aber allgemeine, den Status der Avantgarde betreffende Fragen – Was ist neu an der neuen Musik? oder: Welche gesellschaftlichen Aufgaben erfüllt die zeitgenössische Musik heute? – lassen sich bestens am lebenden Objekt beantworten.

Nun bemerkte schon Adorno, dass man, wo ein Ton erklingt, sich ein gewisses Lächeln nicht verkneifen könne. Musik war bereits in den Sechzigerjahren zu einem Gebrauchsgegenstand heruntergekommen, dem man eine Revolution von gesellschaftlicher Tragweite nicht zutraute. Für den schwerfälligen Orchesterapparat, den in Bewegung zu setzen Komponisten in Donaueschingen aufgerufen werden, scheint das in besonderem Maße zu gelten, sofern die bürgerliche Erfindung „Orchester“ längst zur Institution erstarrt ist, in der sich ästhetischer Fortschritt nur schwer durchsetzen lässt. In Donaueschingen wurde deshalb deutlich, dass sich mit den Mitteln der sprachfixierten Ausdrucksästhetik heute nichts Wesentliches mehr sagen lässt. Und junge Komponisten, die glauben, sich einer historisch verbürgten Syntax annehmen zu müssen, um verstanden zu werden, machen sich regelmäßig als bloße Karikaturen ihrer Großväter lächerlich.

Eine der erfolgreichsten Möglichkeiten, diesem Dilemma zu entkommen, besteht in der Strategie, die klassische Musik als einen historisch abgeschlossenen Komplex zu begreifen, den man nicht fortschreibt, sondern über den man distanziert verfügt. Das Orchester in Bernhard Langs „Differenz/Wiederholung 17“ zum Beispiel klingt über weite Strecken nicht grundlegend anders als – sagen wir: das von Schostakowitsch. Aber dadurch, dass Lang mit diesem Orchester die Schattierungen eines exaltierten Rockgitarrensolos Moment für Moment auskomponiert, wird die Musik selbst zu einem kritisch-analytischen Instrument. Lars Petter Hagen, dessen fragil instrumentiertes „Norske Arkiver“ sonst kaum etwas mit Langs wuchtiger Orchestersprache zu tun hat, verfährt ähnlich. Auf der Suche nach einer musikalischen Identität Norwegens collagiert Hagen Aufnahmen des Rundfunkarchivs und norwegische Klangklischees, die er mit einem zarten Dissonanz-Schleier trübt. Auf derartige ins Dokumentarische gehende Strategien zu verzichten, obliegt Komponisten, denen es gelungen ist, sich im Laufe der Jahre einen persönlichen Materialfundus anzueignen. Dem italienischen Komponisten Salvatore Sciarrino zum Beispiel gelingt es mit einem näselnden Parlando, wenigen blökenden Bläserakkorden und einem zarten, metallenen Klirren seinen mimetischen Reflex auszuleben. Mit „Archeologia del telefono“ stilisiert er die akustischen Facetten des Telefons, vom topfigen Stimmklang über das Besetzt-Zeichen bis hin zum modernen Klingelton, der Pointe des Werkes, mit der der Komponist sich an der Banalisierung klassischer Melodien durch die Handy-Industrie rächt.

Auch Beat Furrer hat sich im Laufe der Jahre idiomatische Gesten erarbeitet, die er im Kontext seiner Werke mit Bedeutung auflädt. Seinem Musiktheater „Fama“, das Christoph Marthaler szenisch eingerichtet hat, liegen Passagen aus Arthur Schnitzlers Erzählung „Fräulein Else“ zugrunde. Vor Schnitzlers Psychogramm einer jungen Frau entfalten Furrers stockende Crescendi und verhauchte Tremoli ihr dramatisches Potenzial. Der aufwändige Konzert-Kubus mit beweglichen Wandlamellen, um den herum das Ensemble auf das Publikum einspielte, wurde da tatsächlich zum Haus der Fama, in dem die Gerüchte dieser Welt als bebendes Grollen versiegen.

Neu waren in Donaueschingen aber nicht nur die Werke, sondern auch der Enthusiasmus, mit dem das Publikum Zuspruch und Unmut äußerte. Die zahlreichen Buh- und Bravo-Gefechte machten deutlich, dass man nicht nur etwas von der Musik erwartet, sondern dass man an ihr Teil hat, und zwar über bloßen Genuss und höflichen Applaus hinaus.