„Die Diktaturen leeren Afrika“

Das Drama der afrikanischen Migranten in Marokko und an den Grenzen zu Ceuta und Melilla bewegt die Herkunftsländer. Über 2.500 Migranten sind bereits per Flugzeug aus Marokko deportiert worden, vor allem nach Mali und Senegal

VON DOMINIC JOHNSON

Das Erste, was die Rückkehrer bekamen, war eine Meningitis-Schutzimpfung. Als vergangene Woche die ersten 140 Emigranten aus Mali per Flugzeug aus Marokko in ihr Heimatland abgeschoben wurden, befanden sie sich in einem fürchterlichen Zustand: zerlumpt, stinkend, voller Wunden. Sie hätten drei Tage nichts zu essen gekriegt, erzählte einer. Zwei mussten aus dem Flugzeug getragen werden. Einmal geimpft, versammelten sich die Unglücklichen im Flughafengebäude. Sicherheitsminister Oberst Sadio Gassama hielt eine Rede. „Wir sind glücklich, euch zu empfangen“, sagte er. „Wir bringen euch nach Hause, damit ihr wieder ein normales Leben führen könnt.“

Über 2.500 schwarzafrikanische Migranten hat Marokko seit Beginn letzter Woche in ihre Heimatländer südlich der Sahara abgeschoben: 1.135 nach Mali, 1.121 nach Senegal, 129 nach Kamerun, 93 nach Guinea, 60 nach Gambia. Hunderte weitere warten noch in Lagern oder sind in der Wüste ausgesetzt worden. Tausende halten sich versteckt, Zehntausende befinden sich auf der algerischen Seite der Grenze. Das „schändliche Spektakel“ der Massendeportationen gefesselter Migranten per Flugzeug, wie es die Afrikanische Union (AU) nennt, hat das blutige Drama an den Grenzzäunen der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla abgelöst. Und mit jedem Rückkehrer in die Heimat wird die Debatte in den Herkunftsländern weiter aufgeheizt.

Gegen Europa richten sich die wenigsten Vorwürfe: dass Afrikaner dort unerwünscht sind, ist bekannt. Dass aber das Bruderland Marokko so mit den Migranten umgeht, erregt muslimische Sahelländer, deren Regierungen beste Beziehungen zum Königreich Marokko unterhalten.

Die Zeitung La Roue de l’Histoire in Niger fühlte sich an Marokkos Kriege gegen die Sahel-Königreiche des Spätmittelalters erinnert – damals wurden Sklaven zu tausenden mit Eisenketten durch die Sahara verschleppt, nur eben von Süd nach Nord. Ein nigrischer Abgeordneter verkündete einen Marokko-Boykott. Die westafrikanische Menschenrechtsorganisation Raddho (Afrikanische Menschenrechtsversammlung) verlangte eine UN-Untersuchung.

In anderen Ländern wurde aber auch die Verantwortung der eigenen Regierungen betont. „Die Diktaturen leeren Afrika“, titelte eine Zeitung in der Demokratischen Republik Kongo. Die kongolesische Menschenrechtsorganisation „Voix des Sans-Voix“ (Stimme der Stimmlosen) listete auf einer Pressekonferenz Gründe für Emigration auf: Rechtlosigkeit, Ausplünderung, Diktatur. „Weil es keine Veränderung Richtung Demokratie gibt, wählen die heutigen Generationen das Exil“, hieß es.

Viele afrikanische Regierungen sorgen sich zwar darum, dass gerade ihre bestausgebildeten Fachkräfte am liebsten das Land verlassen. Aber kaum eine bietet Ausreisewilligen Gründe, dazubleiben, oder bewältigt die Folgen massiver Emigration. Senegal hat 11 Millionen Einwohner – und weitere 3 Millionen Senegalesen leben im Ausland. Diese Emigranten schickten allein letztes Jahr rund 471 Millionen Euro in die Heimat zurück – das entspricht einem Drittel der Staatsausgaben. Das meiste davon fließt in Immobilien, behauptete vor kurzem Senegals Minister für Auslandssenegalesen, Abdoul Malal Diop. Wenn die Migranten ihr Geld stattdessen vernünftig investieren würden, „hätten sie in zehn Jahren über 1.000 Industrieunternehmen gründen können, und wenn diese Dynamik weiterginge, müssten die Senegalesen nicht mehr ausreisen“, kritisierte er.

Nelly Robin vom „Institut für Entwicklungsforschung“ in Senegal rechnet hingegen vor: Jeder Migrant schafft, indem er aus dem Ausland Geld schickt, vier Arbeitsplätze zu Hause. Wenn er zurückkehrt, fällt die Hälfte davon weg. „Der Migrant in der Fremde ist besser als der Migrant, der zurückkehrt“, sagt sie.

Willkommen konnten sich die 129 Kameruner jedenfalls nicht fühlen, die nach ihrer Odyssee aus Marokko im kamerunischen Duala landeten. „Wir freuen uns, dass ihr noch lächelt“, sagte Gouverneur Gounoko Haounaye ihnen in seiner zynischen Willkommensrede. Es folgt die Nationalhymne. Dann ging es ab in eine Militärbasis.