„Der Weinkenner ist sozial anschlussfähig“

Kein anderes alkoholisches Getränk wird in Deutschland so zelebriert wie der Wein. Woher kommt diese Lust am Weingenuss? Ein Gespräch mit Wein und dem Soziologen Jan Dietrich Reinhardt

VON SUSANNE LANG

Das Ziel des Begehrens liegt in der Glinkastraße, einer dunklen Seitenstraße in Berlins so glitzernder Mitte. Efeu rankt sich vor Fenstern und Eingang die Wand entlang, unter seinen Blättern leuchtet der Name des Lokals hervor: ein schlichtes „Nö!“. Eine kleine Flucht aus der umtriebigen Geschäftigkeit an der Friedrichstraße. Innen ist es hell, runde Stehtische aus warmem Holz füllen den kleinen Raum, in den Ecken Zweiertische. Dieses Lokal gehört ganz dem Wein. Seiner Auswahl, seinem Genuss, seiner Begleitung zu einem kleinen Imbiss aus Suppe oder Häppchen. Dieses Weinrestaurant ist einer der Orte unserer Gesellschaft, an dem das Weintrinken zelebriert wird. Und er ist perfekt, um einen Mann zu treffen, der die soziale Bedeutung des Weins erforscht hat. Der Soziologe Jan Dietrich Reinhardt ist pünktlich. Wir wählen einen Zweiertisch – und je ein Viertel Wein. Weiß der Mann, einen Riesling. Rosé die Dame, einen Schilcher aus Österreich.

taz.mag: Herr Reinhardt, ist es denn okay, dass wir Wein trinken – bei einem beruflichen Gespräch?

Jan Dietrich Reinhardt: Absolut, wenn man aufpasst, dass es nicht entgleitet.

Sie lachen – zweifeln Sie etwa?

Aber nein. Das mäßige abendliche Trinken von Wein ist sozial völlig einwandfrei und sogar erwünscht. Es ist im Gegenteil häufig der Fall, wenn jemand nicht trinkt, dass er bedrängt wird. Und, wenn er nie trinkt, sogar schnell in den Verdacht des Alkoholismus gerät.

Na, dann können wir ja jetzt anstoßen.

Ja – zum Wohl!

Verraten Sie uns doch, was einen Soziologen an Wein interessiert.

Die Diskurse, die damit verknüpft sind, die über Wein geführt werden. Sie haben sich historisch sehr stark gewandelt. Und der Weindiskurs ist insofern sehr spannend, als er wesentlich komplexer ist als etwa der Bierdiskurs.

Komplexer?

Alleine wenn Sie die Preisunterschiede bei Wein betrachten, das suggeriert schon einen viel größeren Facettenreichtum, von der Geschmacksrichtung bis hin zur Qualität der Weine. Und er hat eine andere soziale Funktion als der Bierdiskurs: Die Weinkennerschaft indiziert sozialen Status und Oberschichtenzugehörigkeit bzw. entsprechendes kulturelles Kapital.

Seit wann hat Wein diese Bedeutung?

Eigentlich seit seiner Erfindung. Aber einzelne Aspekte des Diskurses, etwa die Bedeutung der Weinkennerschaft, sind in ihrer extremen und auch im Bürgertum verbreiteten Form Phänomene der Neuzeit, also ab Ende des 18. Jahrhunderts. Wie ausufernd der Weindiskurs heute ist, können Sie auch daran ablesen, wie viele Massenmedien sich allein mit Wein beschäftigen.

Das heißt, es geht nicht nur um den Genuss von Wein?

Nein. Mittlerweile gibt es ja ausgefeilte Klassifikationssysteme der Weinbewertung – was immer man davon halten mag. Und dazu gehört ein entsprechendes Vokabular, das benutzt wird, um Weinsorten zu beschreiben. Interessant ist dabei, dass es große Unterschiede zwischen Weißwein- und Rotweinvokabular gibt. Weiße werden etwa eher mit hellen Früchten assoziiert, während bei Rotwein auch mal härtere Begriffe benutzt werden, wie holzig oder „wie ein abgerittener Pferdesattel“ – was als Kompliment gelten will.

Wie darf man das verstehen?

Es gibt Kenner wie zum Beispiel momentan Robert Parker oder Hugh Johnson, die eine exponierte Position im Weindiskurs eingenommen haben und ein Vokabular kreiert haben. Im Grunde genommen geht es um individuelle Geschmackserlebnisse, aber wenn man sie mitteilen will, muss man auf eine Sprache zurückgreifen, die andere auch verstehen. Da Weine relativ komplex schmecken bzw. besser gesagt riechen, muss man die Sinneseindrücke eben metaphorisch darstellen.

Welche Funktion kommt da den Weinseminaren zu, die ja mittlerweile auch überhand nehmen? Sie signalisieren, dass jeder in die Weinkennerschaft aufsteigen kann?

Da steckt eine gewisse Illusion der Chancengleichheit dahinter, ja. Wobei man natürlich berücksichtigen muss, um einen Begriff des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu benutzen, dass der Habitus unterschiedliche Zugänge zur Weinpraxis vorgibt. Natürlich kann man sich die Diskurse aneignen, um die Herkunftsschicht zu verschleiern. Der Kenner wird aber immer gewisse Fehler und Unsicherheiten bemerken.

Aber jemand wie Gerhard Schröder, ein Rotweinliebhaber, hat das geschafft?

Ich finde schon. Aber als SPD-Mitglied hat er immer wieder darauf zu verweisen, dass er auch anders kann: mit Currywurst und der Flasche Bier, die hervorgeholt werden muss, um ein eher proletarisches Milieu anzusprechen. Das ist ein ständiger Spagat, aber er ist ihm relativ gut gelungen.

Wie steht es mit dem grünen Milieu, das ja mittlerweile auch gerne das schöne gute Leben pflegt?

Auch dort spielt man mit Differenzen, indem man sich als Kenner ausweist, die Utensilien zur Verfügung hat, die für das Weintrinken wichtig sind. Und zu diesem demonstrativen Konsum, also man zelebriert ihn mit anderen, gehört immer auch das Sprechen über Wein. Wobei ich als Soziologe behaupten würde, dass der Diskurs eindeutiges Primat hat vor dem Geschmack. Viele Blindtests haben ja schon bewiesen, dass nur die Allerwenigsten Weine nach Rebsorten und Jahrgängen unterscheiden können.

Es ist also völlig egal, was man wirklich schmeckt – Hauptsache, man kann darüber reden?

Ja, es geht um soziale Anschlussfähigkeit.

Jetzt bin ich aber gespannt: Wie würden Sie Ihren Wein beschreiben? Ich gestehe auch gleich: Ich kann es nicht gut.

Also, wie würde ich ihn beschreiben …

Nehmen Sie sich gerne Zeit …

Sehr frisch, mit einem für einen Riesling relativ geringen Säuregehalt, keine auffallend spezifische Eigennote, so dass es ein Wein ist, der sich hervorragend eignet, um Essen dazu zu konsumieren.

Mal ehrlich, in welcher Situation würden Sie so über Wein sprechen?

Wenn ich mit meinem akademischen Lehrer Alois Hahn, der Weinkenner ist, unterwegs bin, dann finden schon so Gespräche statt, auch mal mit Freunden, aber ich würde das natürlich nicht so gestelzt ausdrücken. Der Diskurs kommt auch erst wirklich in Gang, wenn man verschiedene Weine kennt. Das Interessante am Diskurs ist der Vergleich.

Unter Akademikern kennt man Wein auch anders: der Professor und seine Flasche Rotwein, während er arbeitet …

Zunächst markiert Alkoholgenuss in der Moderne den Abschnitt „Freizeit“. Das gönnt man sich, das hat man jetzt verdient. Wein ist insofern eine Ausnahme, in seinem Diskurs ist auch beinhaltet, dass er zur Inspiration eingesetzt werden kann. Das kennen Sie wahrscheinlich auch.

Oh na ja, ja. Und wie viele Flaschen Wein stecken in Ihrer Diplomarbeit?

Ah, doch einige. Aber ich muss dazu sagen, beim Schreiben trinke ich eigentlich so gut wie nie. Ich habe den Computer dann schon aus, wenn mir was Gutes einfällt, mache ich mir allenfalls noch kurze Notizen. Aber richtig arbeiten geht nicht, höchstens assoziieren.

Aber es scheint, als wäre es sozial akzeptiert?

Ja, und sogar extremer Weinkonsum oder Alkohol allgemein ist in bestimmten Rollen sozial erwartbar, etwa bei Künstlern. Das ist eine Möglichkeit der Selbstdarstellung. Alkohol ist eine Kulturdroge mit einer tausendjährigen Geschichte, die im Abendland fest verwurzelt ist.

Man will sich damit vom bürgerlichen Modell des selbstkontrollierten Individuums abgrenzen?

Einerseits ist Alkohol in den meisten sozialen Systemen dysfunktional, weil die Koordination von Kommunikationen und Handlungen nicht mehr gewährleistet ist. Andererseits bietet Alkohol Entlastung von dieser permanenten Selbstkontrolle, an den vorgesehenen Orten: Restaurant, Kneipe oder Party. Es geht um, wie man in Anlehnung an Norbert Elias sagen kann, Affektnischen.

Wobei wir wieder bei Gerhard Schröder wären: sein Auftritt in der Elefantenrunde – vor dreißig Jahren war es noch üblich, sich als Politiker oder Journalist während der Diskussion die Kante zu geben, vor allem mit Wein.

Das hat mit der fortgeschrittenen Pathologisierung zu tun. Man soll kein schlechtes Vorbild sein für die Zuschauer, aber auch selbst nicht in den Verdacht des Alkoholikers geraten. Dazu kommt, dass Medien heute ihre Objekte und sich selbst viel genauer beobachten. Da fällt dann die kleinste Entgleisung viel stärker ins Gewicht, als das früher der Fall war. Adenauer konnte noch sagen, was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, das geht heute nicht mehr.

Eigentlich schade, nicht wahr?

Ja, mit dem Risiko, dass man eben auch krawallig wird, wie das Schröder-Beispiel zeigt. Da kamen dann die Euphorie über das schlechte Abschneiden der CDU und wahrscheinlich sogar nur eine ganz geringe Menge Alkohol zusammen …

Apropos krawallig – wie steht es mit dem emanzipatorischen Aspekt des Weintrinkens? Tabak war ja ein wichtiges Genussmittel für die Frau, um in der Öffentlichkeit Selbstbestimmtheit zu demonstrieren.

Das ist zu der gleichen Zeit auch mit Alkohol passiert. In vormodernen Verhältnissen war das überhaupt nicht vorstellbar. Und ich würde sagen, es gibt heute immer noch Bewertungsunterschiede je nach Geschlecht, gerade wenn Alkohol im Zusammenhang mit Sexualität konsumiert wird. Die betrunkene Frau, die drei verschiedene Männer auf einer Party küsst, wird eher sanktioniert als der Mann, der Entsprechendes macht. Es gibt soziale Konstruktionen, und die folgen immer noch traditionellen Rollenmustern.

Obwohl Wein doch ein klassisch romantisches Accessoire ist, bei einem Date?

Das ist ein gegenwärtiges Phänomen. In der Antike war Alkoholkonsum eindeutig den Männern vorbehalten, man konnte noch nicht mal diskutieren über Frauen und Alkohol. Heute gestaltet sich der Weindiskurs eher über den Geschmack, oft in Verbindung mit gutem Essen. Das ist offensichtlich für Frauen wesentlich kompatibler. Und ich würde auch behaupten, dass das beiderseitig erwünscht ist, gerade weil Wein die Geschlechter zusammenbringt. Wein ist eine Brücke. Bier dient eher der Männlichkeit – wenn die sogenannten Männergespräche geführt werden. Man könnte das eher den Bierchen-Diskurs nennen.

Was trinken Sie denn lieber?

Ich? Das ist ganz unterschiedlich, also zum Essen wesentlich lieber Wein, aber zum Fußballgucken Bier – ich bin ja auch nur ein Kind dieser Gesellschaft.

SUSANNE LANG, Jahrgang 1976, ist Redakteurin bei taz zweiJan Dietrich Reinhardts Buch, „Gedanken zu einer Soziologie des Alkoholismus“, ist im Ergon Verlag erschienen (2005, 118 Seiten, 22 Euro)