Herr Wichtig außer Dienst

Sein früherer Lauftrainer kennt Leute, die ihn jetzt als Zugpferd für Volksläufe gewinnen wollen. Ob das bedeutsam genug ist?

AUS BERLIN JOHANNES SCHWEIKLE

Die erste Prophezeiung erfüllte sich erstaunlich schnell. „Joschka wird König der Cafeteria“, sagte einer seiner Gegner, „der im Reichstag Hof hält wie Kohl und die alten Geschichten erzählt.“

Bereits am Dienstag, als der neue Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommt, gewährt er im Restaurant des Reichstags die erste Audienz. Fischer isst Leberkäse, am Tisch sitzt ein Großjournalist, der mit ihm die Liebe zur martialischen Heldensprache teilt. Fischer hängt lässig schräg im Stuhl und gestikuliert, dass seine goldene Uhr durch den hohen Raum blitzt.

Auf der anderen Seite der hohen Glasscheiben, im Foyer des Reichstags, lassen sich künftige Minister den Fernsehteams zuführen, „in zwei Minuten sind wir live drauf“. Ein Stockwerk höher bittet eine Grünen-Abgeordnete den nächsten Außenminister, sich für ein Foto neben ihre Mutter zu stellen. Frank-Walter Steinmeier tut das, in der aufgekratzten Stimmung des Anfangs verbindlich lächelnd.

Joschka Fischer hat den Rückweg von der Macht überlegt angetreten. Im Mai ließ er die grüne Führung wissen, dass er nochmals in den Wahlkampf ziehe, aber nicht den Oppositionsführer geben werde – entgegen anders lautenden öffentlichen Behauptungen. Am Wahlabend erwog er eine Ampelkoalition, ein Gespräch mit Schröder am Tag danach machte diese Hoffnung zunichte. So ging er zwei Tage nach der Wahl konsequent den nächsten Schritt und kündigte seinen Rückzug an.

Im Foyer ragt ein rotes Mikrofon ins Scheinwerferlicht: www.statement.de. Fetzenweise sind demokratische Richtigkeiten zu hören: neue Konstellation, hohe Kontinuität, Macht auf Zeit. Aber wie fühlt sich der Bruch einer politischen Biografie im Einzelfall an?

Am Wahlabend war Joschka Fischer noch ein Kristallisationskern des medialen Interesses, um den sich Reporter, Kameraleute und Fotografen lagerten, und wenn er sich in Bewegung setzte, waberte der Pulk mit, dass die hinteren Fotografen schauen mussten, dass sie schnell genug von ihren Trittleitern herunterkamen. Und jetzt, einen Monat später, sitzt er bei der kleinsten Oppositionsfraktion in der hintersten Reihe, wo die Stühle keine Arbeitstische mehr haben, von Telefonen und Mikrofonen ganz zu schweigen. Hinter ihm kommt nur noch die dicke, graue Säule. Zu dieser Platzierung passt eine zweite Prophezeiung eines grünen Gegners: „Man wird seine Zwischenrufe hören, mit denen er die Fraktionsspitze rügt: ‚Fritz, was macht ihr da?‘“

„Im Moment genießt er es, viel Zeit zu haben“, sagt Krista Sager. „Er macht sich’s gerne zu Hause gemütlich und kocht für seine Familie.“ Den Abwasch macht er selbst und von Hand, nebenbei telefoniert er mit Vertrauten. Nächste Woche will er ein paar Tage Urlaub machen, die ersten nach einem Wahlkampf, den er bis an die Grenze der Belastbarkeit führte: 14.000 Kilometer in sechs Wochen, Mittwoch Kundgebung in Frankfurt, Donnerstag UNO in New York. Und am Freitag spielte er in Berlin den Retter seiner Partei: Am Hangar auf dem Flughafen Tempelhof öffnete sich das große Tor der Halle, der Mythos gewordene Wahlkampfbus rollte herein, Joschka stieg auf die Bühne und schrie mit heißerer Stimme: „Das wird ein Fotofinish – wir packen das noch.“

Der Minister und Wahlkämpfer hat lange in Ausnahmesituationen gelebt. Trotzdem scheint er seine Alltagstauglichkeit nicht verloren zu haben. Jetzt kommt ihm zugute, dass er den Kontakt zur Wirklichkeit jenseits der Konferenzsäle nicht gekappt hat. Der Minister, der auch zur Frankfurter Buchmesse von zwei Mitarbeitern begleitet wird, die den Kontakt zum Amt und zur Welt halten, hat das selbständige Telefonieren nicht verlernt. Die wichtigen Nummern hat er gespeichert, seinen polnischen Kollegen kann er auch ohne Hilfe des Vorzimmers anrufen.

„Transportation and information“, hat Churchill die Privilegien eines Ministers genannt. Der Chef des Auswärtigen Amtes verfügt über die Flugbereitschaft der Bundeswehr, die ihm innerhalb eines halben Tages vom Hubschrauber bis zum Airbus die passende Maschine zur Verfügung stellt. Am Boden wartet dann die Limousine mit Chauffeur. Doch Fischer kann sich auch nach sieben Regierungsjahren noch ohne Hilfe des Apparats bewegen. Im Moment erwägt er den Kauf eines eigenen Autos.

„Die Grünen hat er als Vehikel benutzt“, urteilt ein politischer Weggefährte. Er schiebt zwar gleich hinterher, dass Fischer die Partei maßgeblich geprägt habe, „aber er brauchte sie, weil sie ihm seinen gesellschaftlichen Aufstieg durch die Politik ermöglicht hat“. Diese These hat den Vorzug, dass sie viele Verhaltensweisen Fischers schlüssig erklärt. Die Kleinarbeit in Partei und Fraktion hat er gerne andere machen lassen. Seine Domäne waren die großen Auftritte auf den Parteitagen. Da konnte er sich als Kämpfer inszenieren, der die Schlacht herumreißt.

Vor allem aber erklärt diese These Fischers Verhalten seit dem 18. September. Das Vehikel Partei hat ihn bis ins Amt des Bundesaußenministers gebracht. Weiter geht’s nicht. Also steigt er ganz unsentimental aus und sucht sich einen neuen Wagen.

Fischer zeigte sich nicht auf dem Parteitag in Oldenburg. Er schwänzte die beiden vergangenen Sitzungen des Parteirats. Als der Bundestag seinen neuen Präsidenten wählt und die Stimmen ausgezählt werden, setzt Fischer sich in der Pause zu Franz Müntefering. Dann geht er zu Angela Merkel, und weil ihm dabei Fritz Kuhn im Weg steht, legt Fischer ihm von hinten beide Hände rechts und links auf die Schultern und schiebt ihn zur Seite.

Wenn Fischer Amt und Mandat niederlegt, hat er Pensionsansprüche in Höhe von 10.700 Euro im Monat. Er lässt die Tür für persönliche Veränderungen weit offen. Auf die Frage, ob er sein Mandat im Bundestag vier Jahre lang ausüben wolle, hat er nach dem Rückzug kokettiert: „In meinem Alter kann man nicht mehr alles als selbstverständlich voraussetzen.“ Er ist jetzt 57, klingt aber wie der alte Adenauer. Der legte in der bundesdeutschen Demokratie den traurigsten Abschied von der Macht hin, verbittert und voller Selbstmitleid. Mit dem letzten Besucher im Kanzleramt leerte er einige Flaschen Trockenbeerenauslese und sagte: „Für den Herrn Erhard, der versteht ja nichts von Wein, sind sie zu schade.“

Wenn aus einem Minister ein ehemaliger wird, dann erfährt er, welche Beziehungen auch bei drastisch reduziertem Sozialprestige halten. Was waren beruflich bedingte Kontakte, wer hat auch ein privates Interesse an ihm? „Viele schätzen es nicht richtig ein, wie wenig von diesen Beziehungen übrig bleibt“, sagt eine, die den Machtverlust schon hinter sich hat, „und Männer machen sich an diesem Punkt mehr Illusionen als Frauen.“

Die neue Bundesregierung wird wohl Mitte November vereidigt. Bis dahin bleibt Fischer als geschäftsführender Minister im Amt. Außer einem Abschiedsbesuch in Amerika stehen keine großen Reisen mehr an. Es sei denn, es bricht noch eine Weltkrise aus.

Das Auswärtige Amt hat 6.500 Mitarbeiter, davon mehr als 2.000 im Ministerium in Berlin. Im Keller, wo einst die Reichsbank ihre Tresore hatte, hält das Lagezentrum rund um die Uhr die Verbindung zur Welt. In der Bibliothek liegen die Dokumente der deutschen Politik im Original, von der Emser Depesche bis zum Élysée-Vertrag. Das Büro im zweiten Stock, in dem einst Erich Honecker saß, hat Fischer mit Terrakotta-Fliesen und lichten Designermöbeln gestaltet, auf dem Sideboard steht ein Bild, das ein Paar Turnschuhe zeigt.

In ein paar Wochen reduziert sich Fischers Apparat auf ein Büro, wie es jedem Abgeordneten des Bundestags zusteht. Das veranlasst einen Vertrauten zur dritten Prophezeiung: „Er wird seine Mitarbeiter gewaltig überfordern. Wie sie’s auch machen, es wird ihm nicht schnell genug gehen.“

Dann wird sich zeigen, welche Angebote der Minister a. D. bekommt. Wer ihn für einen Vortrag bucht, welche Schirmherrschaften ihm angetragen werden, ob man ihm eine attraktive Gastprofessur anbietet, etwa in den Vereinigten Staaten. Vor allem aber wird man sehen, welche Posten bei der UNO zu haben sind. Bis dahin sitzt Herr Wichtig im Wartesaal der Prominenz.

„Joschka versteht sich sehr gut mit dem Frank“, sagt Krista Sager und meint seinen Nachfolger Steinmeier. Diese Konstellation ermöglicht ein Spiel über die Bande. Denkbar wäre ein Einsatz Fischers als Sonderbeauftragter an internationalen Krisenherden. „In ein Loch fällt er erst, wenn er nur noch sein Bundestagsmandat hat und weiß: Das kann’s nicht gewesen sein“, sagt eine Vertraute.

Am späten Dienstagnachmittag hat der Bundespräsident den Mitgliedern der abgewählten Regierung die Entlassungsurkunden überreicht. Joschka Fischer lässt nicht erkennen, dass diese schlichte Zeremonie für ihn von Bedeutung wäre. Er trägt ein Paar schwarze Slipper, die der Herrenausstatter für festliche Anlässe nicht empfehlen würde. Doch auch hier wirkt er stilbildend. „Wir tauschen jetzt Macht gegen Freiheit“, ruft Otto Schily dem wartenden Fernsehteam zu, „so wie Joschka Fischer das gesagt hat.“

Der sagt erst mal gar nichts mehr. Mit erstaunlicher Konsequenz verweigert er sich seit seinem Abgang Interview-Wünschen. Seine Mitarbeiter preisen diese Enthaltsamkeit als politische Klugheit: Er redet seinem Nachfolger nicht drein. Doch wenn der Übergangsminister durchs Foyer des Reichstags geht und als grauer Griesgram die Journalisten auf Abstand hält, dann wirkt er auch wie ein Patriarch, der mit Liebesentzug straft.

„Manche Männer unter den Journalisten haben an ihm ihre Psychodramen abgearbeitet“, sagt Krista Sager. „Was mit dem eigenen Vater nicht geklärt werden konnte, hat man in der Visa-Affäre mit Joschka ausgetragen. Und als er die durchgestanden hat, haben die gleichen Leute ihn zum Allergrößten erhoben.“ Da nimmt sie auch Fischers Launen in Schutz: „Wie soll einer in einer Welt, die so schlicht funktioniert, zum Gandhi werden?“

Sie kennt seine Mäkelei, sein Jammern und seine Überheblichkeit, mit der er andere abkanzelt. „Vielleicht ist das seine Medizin gegen den Realitätsverlust“, vermutet sie, „er hat nie die Intuition und das Gespür verloren, auch wenn er im Höhenrausch Geschichten über sich selbst erzählt hat.“

Herbert Steffny will sich wieder bei Joschka melden. Er war sein Lauftrainer, der ihn 1997/98 auf den Marathon vorbereitet hat. Steffny schwärmt noch immer von seinem Schützling: „Der hing mit dem Arsch schon über dem Graben. Aber er hat die Kontrolle über seinen eigenen Körper wiedererlangt. Seine Willensstärke unterscheidet sich in nichts von der eines olympischen Spitzensportlers.“

Fischers Körpergewicht liegt derzeit deutlich über den 74 Kilo aus seiner Marathon-Phase. „Aber er gehört noch immer zu uns, zur Laufbewegung“, sagt Steffny. „Bei mir haben schon einige Veranstalter angefragt. Die wollen Joschka als Zugpferd für ihre Volksläufe gewinnen.“

Ob das bedeutsam genug ist für einen Staatsmann außer Dienst? „Er braucht Angebote, bei denen er sein Kampfgewicht einbringen kann“, sagt eine Weggefährtin. Bleiben diese aus, dann trifft möglicherweise die letzte Prophezeiung ein: „Wenn sein Potenzial in der Welt nicht mehr gefragt ist, kann das zu einer Lebenskrise führen.“