Die Hand in der Flecksuppe

Seit 750 Jahren gibt es Königsberg, vor 60 Jahren wurde daraus Kaliningrad. Jetzt hat Schorsch Kamerun der Stadt mit „Schön ist gewesen (ist gekommen Iwan …)“ im Prater eine toll euphorische Doppelgeburtstagsgala geschenkt

An den ehemaligen Königsberger Schlossteich erinnert nur noch seine Form, das umliegende Zentrum wurde zum Kriegsende komplett zerstört. Der Teich ist mit Entengrütze bedeckt, in der leere Bierflaschen schwimmen. Trotzdem gehen die Russen hier baden. Wenn man um den Teich joggt, von Kötern verfolgt, wird man vielleicht einen Russen beim Kopfsprung sehen. Eine Runde später steht er mit blutiger Stirn im Wasser, er war auf einen Betonpfeiler geknallt. Eine Runde später hat er sich das Blut abgewischt und badet weiter, als sei nichts gewesen. Das ist Russland, sagt man sich, gegen solche Menschen fängt man keinen Krieg an, man würde den Kürzeren ziehen.

Man muss sich gut mit Königsberg auskennen, um seine Reste im heutigen Kaliningrad zu entdecken. Stadt und Region sind 60 Jahre vom russischen Zentrum vernachlässigt worden und zum Lohn heute von EU-Ausland umringt. Wer Königsberg noch gekannt hat, wird sich mit Kaliningrad kaum anfreunden können. Auf alle anderen dürfte es dieselbe Faszination ausüben wie jede russische Stadt.

Im Zentrum überlagern sich die Symbolwelten. Anstelle des früheren Preußenschlosses, in dem sich Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg 1701 selbst zum ersten König in Preußen krönte, erhebt sich heute die gigantische Bauruine des Dom Sowjetow (das trotz seiner reizvollen Architektur nach wie vor in jedem zweiten Artikel reflexartig als „Scheußlichkeit“ bezeichnet wird). „Die Rache Preußens“ wird der Umstand genannt, dass die Kellergewölbe des Schlosses einen schlechten Baugrund für das Haus der Räte abgaben. Befindet sich dort unten noch das Bernsteinzimmer? Kaliningrader lästern gerne, man solle den Bau an Hollywood verkaufen, als Kulisse für einen Katastrophenfilm über den 11. September.

Das Thema Ostpreußen und Vertreibung weckt bei den einen politisch-korrekte Abwehrreaktionen, die anderen haben es satt, weil es ihnen aus ihrer Jugend als phantasmatisch wiedergekäutes Familientrauma in Erinnerung ist. Popkulturell ist hier scheinbar nichts zu holen, noch immer haftet dem Thema der Duft von Folklore, Laiengedicht und Landsmannschaft an. Wie schön, erfrischend und auch ansteckend euphorisierend ist da die Geburtstagsgala, die Schorsch Kamerun der Doppelstadt Königsberg/Kaliningrad im Prater geschenkt hat. „Schön ist gewesen (ist gekommen Iwan …)“ ist ein bunter Abend, der alles, was zum Thema gehört, auf die Bühne bringt und dabei nicht klamaukig gerät, sondern oft überwältigend komisch.

„Natürlich geben wir uns hier authentisch leger in diesem Stück“, sagt Kamerun, wenn er als Geburtstagsoffizier durch den Abend leitet, unterstützt von einer russischen Synthie-Girl-Group namens „Die Witwen der Perestroika“ (die später einen kommerziell bedingten „Imagewechsel“ zu den „Chicas de la revolución“ vollziehen wird). Frau Eva Zander, eine echte Königsbergerin, mit diesem Gänsehaut verursachendem Akzent, wird von ihrem Mann für die fiktive Sendung „Scheibchenweise Heimat. Anno dazumal auf Raten“ interviewt: „Welche Position beziehen Sie zur sogenannten Vertreibung?“ – „Billijung. Im ehemalijen Kenigsberch wohnt bereijts die dritte Jeneration.“ Ihre Heimat sei nicht an einen realen Ort gebunden, sie trage sie im Herzen. Deshalb richtet sich Herr Zander ans Publikum: „Sprechen sie mir bitte den Satz nach: Liebe Eva, wir sind deine Heimat.“

Und das Publikum macht mit. Eine Heimwehtouristenfamilie fühlt sich von Russen umzingelt und erkennt nichts mehr wieder: „Hier muss irjendwo Haus Nummer finf sajn …“ Der genervte Sohn (fabelhaft Fabian Hinrichs) berichtet, wie sein Vater beim monatlichen familiären Königsberg-Tag immer die Hand in die Flecksuppe gesteckt hat, um zu zeigen, was es heißt, einen Feuersturm zu überleben. Oder „Der große Rudini“, der uns mit seinen Zaubertricks die Kritik der reinen Vernunft erklärt und dabei von einem charmanten Königsberger Klops unterstützt wird: „Außerhalb der Kant’schen Kategorien von Raum und Zeit ist der Klops nicht denkbar.“

Ein ostpreußischer Storch und eine Käthe Kollwitz erscheinen auf der Bühne, während witzige Videoeinspieler Kamerun bei den Kaliningrader Jubiläumsfeierlichkeiten im Kontakt mit den echten Russen zeigen, die ihn weitgehend ignorieren. Man kennt das Format irgendwie von „Hape trifft“, was nicht gegen Kamerun spricht, sondern eher für Hape Kerkeling. Nach 100 Minuten ist Schluss mit diesem würdigen Abend für eine faszinierende Stadt, und wer jetzt noch keine Lust bekommen hat, den Zug nach Kaliningrad zu nehmen und von dort weiter auf die Kurische Nehrung, dem ist nicht zu helfen. JOCHEN SCHMIDT

Nächste Vorstellungen: 22. und 25. Oktober, 20 Uhr, im Prater, Kastanienallee 7–9