Nichts ist so, wie es scheint

AUS BUKAREST UND HERMANNSTADT SABINE HERRE

Lipscani, das alte Basarviertel von Bukarest, ist an diesem Freitag kurz vor zwölf fast menschenleer. Drei streunende Hunde haben sich vor einen Geschäft, in dem es rosa und weiße Brautkleider in Hülle und Fülle gibt, zum Mittagsschlaf niedergelegt. In einem Kiosk werden über lodernden Flammen die traditionellen Zuckerkringel gebacken. Romafrauen versuchen, Jeans zu verkaufen, ihre Kinder betteln die Touristen, die ihre Taschen fester halten, um ein paar Lei an. In den kaum hundertjährigen Häusern, die sich im Stil nicht zwischen Pariser Eleganz und Wiener Üppigkeit entscheiden konnten, gähnen dunkle Fensterhöhlen. Das Lipscani-Viertel, so scheint es, vereinigt alle Vorurteile, die der Besucher mit nach Rumänien bringt: Armut und Verfall, Kinderarbeit und Kriminalität. Und dieses Land soll 2007 der EU beitreten?

„Je mehr Sie von Rumänien wissen, umso weniger werden sie es verstehen“, hatte unsere Reiseleiterin gleich zu Beginn unseres fünftägigen Besuches gesagt. Kurz vor Veröffentlichung ihres Berichts über die Fortschritte Rumäniens auf seinem Weg in die EU hatte die Brüsseler Kommission Journalisten eingeladen, sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen.

Was tatsächlich nicht immer einfach war. Denn wie kann man verstehen, warum in einem Land mit einem Durchschnittslohn von 200 Euro ein Quadratmeter Bürofläche bis zu 2.000 Euro – und damit mehr als in Berlin – kostet. Wie, dass auf einer Baustelle mit fünf Arbeitern meist nur einer arbeitet – und die Wirtschaft doch schneller wächst als in fast allen europäischen Staaten? Und warum versucht eine Regierung die Demokratiestandards der EU mit Notverordnungen und damit ohne demokratische Kontrolle zu erreichen?

Lange Zeit haben rumänische Intellektuelle ihren Politikern vorgeworfen, nur der Form nach europäische Standards anzustreben, die konkrete Umsetzung aber zu vernachlässigen. Doch eigentlich ist es genau umgekehrt. Das, was man als Besucher in Rumänien zuerst wahrnimmt, ist weit weg von europäischen Vorbildern. Doch das, was tatsächlich passiert, nimmt europäische Entwicklungen vorweg: Entstaatlichung und wachsende Selbstverantwortung.

Die offiziellen Durchschnittslöhne sind so niedrig, weil die Unternehmen dafür Sozialabgaben zahlen müssen. Tatsächlich gibt es am Ende des Monats mindestens das Doppelte, bar versteht sich. Geschätzt wird, dass dank dieser Art von Schattenwirtschaft das Bruttoinlandsprodukt Rumäniens doppelt so hoch ist wie allgemein angegeben. Die Bauarbeiter werden nicht per Stunde, sondern – zum Beispiel – per ausgehobenem Kubikmeter bezahlt. Das Arbeitstempo und ihren Lohn, der bei rund 40 Euro am Tag liegt, können sie also praktisch selbst bestimmen. Zudem sind die Löhne in Rumänien in den letzten Jahren so schnell gewachsen, dass die Karawane, wie es bei der Deutsch-Rumänischen Industrie- und Handelskammer heißt, bereits in billigere Länder weiterzieht. Während eine Näherin 150 Euro pro Monat bekommt, müssen für einen leitenden Angestellten bereits bis zu 5.000 Euro gezahlt werden. In keinem anderen EU-Beitrittsland ist die Schere zwischen Reich und Arm größer.

Eine neue Gründerzeit

Aber auch dies ist noch nicht die ganze Wahrheit. Denn zugleich bildet sich mit unglaublichem Tempo eine neue Mittelschicht. Um die fünf Prozent wächst die Wirtschaft pro Jahr, 2004 waren es sogar 8,3 Prozent. Die Inflation ist von über 45 Prozent 2000 auf nur noch 9 Prozent zurückgegangen, die Arbeitslosigkeit liegt mit um die 6 Prozent deutlich unter der in den neuen EU-Staaten Polen oder Slowakei. Und so entstehen am Stadtrand von Bukarest und in den beliebten Feriengebieten der Karpaten die Villen einer neuen Gründerzeit.

Eine Zeit, auf die die 22 Millionen Rumänen lange warten mussten. Ganze 15 Jahre glaubt man verloren zu haben – an eine nationalkommunistische Clique um die Staatspräsidenten Iliescu und Nastase, die zwar Diktator Ceaușcesu stürzte, aber nur, um sich selbst zu bereichern. Geschätzt wird, dass der Einfluss des ehemaligen Geheimdienstes, der Securitate, im öffentlichen Dienst weiterhin bei 8 bis 10 Prozent liegt. Als das Nachbarland Ungarn sich Mitte der 90er-Jahre bereits auf Beitrittsverhandlungen mit der EU vorbereitete, lehnte es Bundeskanzler Kohl immer noch ab, Rumäniens Führung den Wunsch nach einem Staatsbesuch zu erfüllen.

Wirklich zu verändern beginnt sich all dies erst jetzt. Bei den Präsidentenwahlen im Dezember 2004 siegte überraschend nicht der sozialdemokratische Ministerpräsident Adrian Nastase, sondern der populäre Bukarester Bürgermeister Traian Basescu. Als eine der ersten Maßnahmen führte die neue Regierung eine Flat-Tax, eine Einheitssteuer, von nur 16 Prozent ein. Wobei es weniger darum ging, ausländische Investoren ins Land zu holen, sondern die einheimischen dazu zu bringen, aus der Schattenwirtschaft herauszukommen und Steuern zu zahlen. Und der Konsum der Rumänen wurde dabei auch noch angekurbelt.

Die liberal-demokratische Regierung ist jung, zwischen 30 und 45 Jahre alt sind viele Minister, aber nicht immer ist sie deshalb auch eloquent. Die Europaministerin tut sich schwer, Netto und Brutto bei den EU-Zahlungen auseinander zu halten. Und der Staatssekretär im Innenministerium kann zwar genau sagen, wie viel illegale Übertritte es an den rumänischen Grenzen gibt. Eine politische Antwort, wie man Korruption außer durch Strafverfolgung noch bekämpfen könnte, hat er nicht.

Die Korruption, sie ist zweifellos das Hauptthema der neuen Regierung und des ganzen Landes. Wobei rumänische Bürger die Situation oft kritischer beurteilen als deutsche Geschäftsleute. Auch in Deutschland habe es in den Fünfzigerjahren viel Korruption gegeben, sagt etwa der Leiter der Deutsch-Rumänischen Industrie- und Handelskammer, Dirk Rütze. Wirtschaftlich gesehen sei Rumänien heute eben auf jenem Stand.

Natürlich gibt kein Unternehmer zu, Schmiergeld zu zahlen, stattdessen spricht man lieber von Netzwerken, die man aufbaut, um im bürokratischen Alltag schneller voranzukommen. „Wie gut eine Beamtin arbeitet, kann man daran erkennen, wie groß der Blumenstrauß auf ihrem Tisch ist“, sagt einer. Wer nach Rumänien komme, müsse bereit sein, sich auf ein „produktives Chaos“ einzulassen.

Dieses Chaos zu ordnen ist Aufgabe der Justizministerin Monica Macovei. Als einziges Regierungsmitglied gehört die 46-Jährige keiner Partei an, sondern kommt aus der Menschenrechtsbewegung Helsinki Committee. Ihr vorrangiges Ziel in diesen Monaten ist die „Depolitisierung des Justizwesens“. Was vor allem heißt: Sie muss eine Methode finden, Richter und Staatsanwälte zu ernennen, die nicht korrumpierbar ist. Denn nur dann kann es erfolgreiche Prozesse gegen Korruption geben. Als ersten Schritt wird man demnächst dazu übergehen, die Verfahren per Computer und damit nach dem Zufallsprinzip an die einzelnen Gerichte zu verteilen.

Die zugleich konzentriert und müde wirkende Macovei ist inzwischen zur beliebtesten Politikerin des Landes aufgestiegen. Die Anwältin ist überzeugt, dass sie ihre Ziele verwirklichen wird, und muss doch zugeben: „Als das Verfassungsgericht unsere Justizreform stoppte, saß ich gerade in einer Talkshow und mir schossen die Tränen in die Augen.“

Auch fast alle anderen unserer Gesprächspartner – selbst der sozialdemokratische Oppositionsführer und frühere Außenminister Mircea Geoana – zeigen sich überzeugt, dass Rumänien der EU-Beitritt bereits 2007 gelingt. Einen Plan B für die Verschiebung um ein Jahr gebe es nicht. In den Mitgliedsländern sieht man dies natürlich anders. Bis zum nächsten, entscheidenden Fortschrittsbericht im April 2006 müsste es zu einigen Anklagen bzw. sogar Verurteilungen gekommen sein, heißt es.

Jenseits der Karpaten

Als korruptionsfreie Zone gilt Sibiu, das deutsch Hermannstadt heißt und in Siebenbürgen jenseits der im Oktober schon schneebedeckten Karpaten liegt. Die Stadt mit ihren 180.000 Einwohnern hat einen deutschen Oberbürgermeister und dies, obwohl hier nur noch 2.000 Deutsche leben. Ja, mehr noch: Klaus Johannis wurde im Juni 2004 mit 89 Prozent im Amt bestätigt, zwei Drittel des Stadtrats werden von Deutschen gestellt. Im vergangenen Jahr hatte Hermannstadt ein Wirtschaftswachstum von über 12 Prozent, 2007 wird es zusammen mit Luxemburg Kulturhauptstadt Europas sein, und so ist die halbe Stadt eine Baustelle.

Johannis sei es gelungen, Korruption mit Härte zu besiegen, meinen deutsche Geschäftsleute, die in Sibiu investieren. Und die Rumänien sind überzeugt, dass die Deutschen eben ordentlicher und anständiger als sie selbst seien. „Wir müssen unsere orientalische Mentalität erst überwinden“, sagen sie und schicken ihre Kinder auf deutsche Schulen.

Deutsch und orientalisch

Tatsächlich versteht der Besucher Rumänien im alten Hermannstadt besser als im modernen Bukarest. In der Tribunaistraße zum Beispiel, in der man sich eben noch wie in einem etwas heruntergekommen österreichischen Provinzstädtchen fühlte. Um dann plötzlich neben der Kathedrale der rumänisch-orthodoxen Kirche zu stehen, in der sich die tiefe Gläubigkeit der Rumänen schon allein daran zeigt, dass die Kirche nie leer ist. Oder an den gotischen Türmen der Befestigung der Stadt, die zwar nie von den Türken genommen wurde, in deren Parks alt gewordene Männer heute jedoch nicht nur Schach, sondern auch Tarock spielen.

Natürlich, ganz Mitteleuropa ist geprägt vom Mit- und Gegeneinander der Nationen. Doch in Rumänien ist man im Süden dieser Mitte und das heißt, dass es neben den deutschen und slawischen Elementen auch die der Levante, des östlichen Mittelmeers, und die des Orients gibt.

Im heruntergekommenen Bukarester Basarviertel Lipscani, das seinen Namen von Leipziger Händlern erhielt, die nach Siebenbürger ausgewandert waren, und in dem doch die alte Karawanserei das schönste Gebäude ist, wird in wenigen Tagen mit der umfassenden Rekonstruktion begonnen. In Deutschland würde man an dieser Stelle wohl von Multikulti sprechen.