Atomstreit wird heiß

VON NICK REIMER

Gutachten, Studien, gezielt gestreute Gerüchte: Die deutsche Atomlobby hat gestern eine konzertierte Aktion zur Verlängerung der Laufzeiten der AKWs gestartet. Der Bundesverband der Deutschen Industrie veröffentlichte sein Gutachten „Ökonomische Auswirkung alternativer Laufzeiten von Kernkraftwerken“. Tenor: Der Atomkonsens kostet Jobs, die Volkswirtschaft Milliarden Euro und das Klima Milliarden Tonnen Kohlendioxid. Das Institut der Deutschen Wirtschaft veröffentlichte eine Studie, nach der Strom in Deutschland europaweit am teuersten ist. Und der RWE-Konzern kündigte einen „Atomkrach“ an.

So erwartbar diese Positionen waren, so zielgenau wurden sie vorgebracht: Union und SPD trafen sich in Berlin, um die Themen Energie und Umwelt für die Koalition zu sondieren. Neu immerhin war, dass sich auch die Gewerkschaften für eine Laufzeitverlängerung einsetzen. In einem gemeinsamen Papier mit den Atomstromern Vattenfall, Eon, RWE und EnBW forderte neben der IG Berbau, Chemie, Energie auch Ver.di „mehr Realismus in der Energiepolitik“. Ohne Atomkonsens und mit Gorleben als Endlager könne Kernenergie „preisdämpfende Effekte“ erzielen. Offenbar zeigt der Gewerkschaftsappell Erfolg: Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte „SPD-Kreise“, wonach die AKWs genauso lange laufen sollen wie vor dem Ausstiegsbeschluss.

Von solchem Sinneswandel innerhalb der SPD zeigte sich sogar die CDU überrascht. Ein Richtungswechsel in der Laufzeitfrage „ist bis zu uns noch nicht vorgedrungen“, erklärte einer der Verhandlungsführer der Union. Klar sei, dass Mitte der nächsten Woche die Atomkraft verhandelt werde. Und bislang sei kein Entgegenkommen der SPD in Sicht.

Das bestätigte Rolf Hempelmann, der die SPD beim Thema sowohl in der Arbeitsgruppe Umwelt als auch in der Arbeitsgruppe Wirtschaft bei den Koalitionsverhandlungen vertritt. „Der Bestand des Atomausstiegsgesetzes ist für uns eine zentrale Verhandlungsposition“, erklärte Hempelmann der taz. Dies akzeptiere mittlerweile auch die Union. „Wenn Bewegung in der Laufzeitfrage erkennbar ist, dann bei der CDU“, so der energiepolitische Fraktionssprecher der letzten Legislatur. Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Michael Müller erklärte den rot-grünen Atomkonsens „für die SPD nicht verhandelbar“.

Jenseits der Verhandlungsgruppe gab es gestern aber reichlich Wirbel. „Der Atomausstieg ist Kernbestand sozialdemokratischer Politik“, erklärte die stellvertretende Bundesvorsitzende Ute Vogt. Juso-Chef Björn Böhning: „Eine Verlängerung der Laufzeiten würde die Zustimmung zum Koalitionsvertrag innerhalb der SPD massiv gefährden.“

„Das sind gezielte Störmeldungen aus Gewerkschaftskreisen“, erklärte ein vor Wut schäumender SPD-Energieexperte Hermann Scheer. „Dieser Quatsch vom Richtungswechsel“ entbehre jeder Grundlage. Scheer zog eine drastische Konsequenz: Nach mehr als drei Jahrzehnten trat er aus Ver.di aus. In einem Brief an Ver.di-Chef Frank Bsirske begründete Scheer: „Mir ist völlig unverständlich, wie sich Ver.di in dieser frappierenden Weise mit den Interessen der großen Energiekonzernen gemein macht, deren Konzentrationsprozess in den letzten Jahren zahlreiche Stadtwerke zum Opfer gefallen sind und die weit über 100.000 Arbeitsplätze abgebaut haben.“

Zoff dürfte jetzt auch Ver.di ins Haus stehen. Anders als sein Chef Bsirske erklärte Niedersachsens Ver.di-Chef Wolfgang Denia: „Gorleben ist als Endlager ungeeignet.“ Und überhaupt: „Wir halten am Atomausstieg fest.“