Sinkende Kurven

Schriften zu Zeitschriften: Die „kultuRRevolution“, 49. Ausgabe, vermisst die Normalität

Bislang hat die großkoalitionäre Polit-Telenovela nicht enttäuscht: Erzschurke Stoiber liefert sich böse Dramulette mit der stets um familiären Ausgleich bemühten Angela Merkel, in der Kasse fehlen wieder mal ein paar Milliarden, und im Bundestagspräsidium bricht eine neue Leitkulturdebatte aus. Da können ALG-II-Empfänger schon mal das Klingeln des Telefons überhören. Schließlich befindet man sich mitten in der Verhandlung weiterer dringender Reformschritte, um das Land vor dem Abgrund zu retten.

Weniger eingängig wird es, wenn man mal wieder einmal ernsthaft über die hässlichen Begleitumstände des politischen Reformeifers nachdenken will: „Heute scheint niemand die Normalität verteidigen zu wollen“, schreibt der Dortmunder Germanist und Kulturwissenschaftler Jürgen Link in der Halbjahres-Zeitschrift kultuRRevolution. Seit über 20 Jahren versteht sich das von Link zusammen mit Rolf Parr herausgegebene Blatt als kritisches Beobachtungsforum für die Wechselbeziehungen von Sprache und Gesellschaft. Die 49. Ausgabe ist dem Thema „Reformen und Amokläufe“ gewidmet.

Als alltägliche kulturelle Vorstellung hat „Normalität“ inzwischen wirklich einen revolutionären Klang. Doch was kann damit überhaupt gemeint sein? Link beschreibt Normalität als ein in modernen Gesellschaften statistisch herstellbares Maß. Traditionell lasse sich etwa die gesellschaftliche Verteilung von Wohlstand in der als „gaußsche Normalverteilung“ bekannten Glockenkurve abbilden. Die Mehrzahl der Menschen werde dabei im breiten Mittelfeld erfasst. Wo die Kurve zu ihren Rändern hin abflacht, fänden sich – normalerweise – die wenigen extrem armen oder extrem reichen Individuen.

Doch weder das quantitative Verfahren noch die überbordenden wissenschaftlichen Fachbegriffe scheinen verhindert zu haben, dass inzwischen bei Link in der Reformdebatte die Galle überkocht: „Was allerdings augenblicklich durch die mit bewundernswerter Frechheit weiter Reformen genannte frenetische zusätzliche Umverteilung von unten nach oben auf den Weg gebracht wird, muss ich aus der Sicht einer Theorie des Normalismus als endgültige Zerstörung sozialer Normalität diagnostizieren.“ Im Gange sei eine „Normalisierung nach unten“: Unauffällig schrumpfe die soziale Glockenkurve in ihrer Mitte zu einem dünnen Flaschenhals.

So ist für Link das Verschwinden des Schlagworts „Normalität“ aus dem Diskurs von Politik und Medien eher das auffällige Symptom für eine „galoppierende Denormalisierung“, die sich „in einem diskursiven Vakuum“ bewege. Motiv dafür sei das Verschweigen oder Verdrängen unlösbarer Widersprüche im kapitalistischen Wirtschaftssystem: Denn beim Warten auf den nächsten Aufschwung wäre das Festklammern an der Statistik von gestern bloß noch eine mentale Wachstumsbremse. Doch mit der verschwiegenen Referenz fehle eben auch ein gesellschaftlich kommunizierbares Maß zur prägnanten Darstellung der gegenwärtigen Krisenfaktoren. Folge davon seien „Verwirrung und Hilflosigkeit der sozialen Wahrnehmung“.

Wie man am besten damit umgeht, ist derzeit auf der politischen Bühne zu beobachten. Als hätte Jürgen Link das schon bei Drucklegung der „kultuRRevolution geahnt: „Eine flexibel-normalistische Strategie der Normalisierung nach unten würde mit symbolisch homogenen Mixen zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit, zwischen sozialer Dienstpflicht und Freizeitbeschäftigung, zwischen Zivil- und Militärdienst, zwischen ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘, zwischen Ökologie und Gentechnologie, zwischen Auto und Fahrrad usw., ja zwischen ‚Spaß‘ und ‚Verzicht/Opfer‘ operieren können. Dafür wäre allerdings weiterhin und mehr als je eine flexibel-normalistische Subjektivität unverzichtbar, die das Spiel von Kompensationen der sinkenden Kurven zu genießen vermöchte.“

JAN-HENDRIK WULF

kultuRRevolution 1/2005, 10 €