Auf Augenhöhe mit dem Nachwuchs

Sie sind die Jüngsten, sie sitzen im Bundestag, sie gelten als künftiges Spitzenpersonal ihrer Parteien – aber ist mit ihnen wirklich ein Staat zu machen? Um das herauszufinden, setzten wir uns auf die Spur der Jugend (I)

VON HENNING KOBER

Vielleicht gibt es in Deutschland ja nur zwei Themen, die die Menschen in der Masse interessieren: Fußball und Politik. Ist es nicht grotesk, am 22. Mai trat Gerhard Schröder als Bundeskanzler nach vorne und wollte die Entscheidungsschlacht um, ja um was eigentlich? Ganz offensichtlich wusste er einfach nicht weiter und rief deshalb Neuwahlen aus.

Neuwahlen, als glasierte Kirsche auf der Sahnetorte der enttäuschten Versprechen. Klar ist inzwischen, Politik reduziert nicht einfach Arbeitslosigkeit, auch nicht die Staatsverschuldung, und gute Unterhaltung sind die verstrahlten Fernsehtalkrunden auch nicht. Doch dann kam der Sommer und der Klassiker Politik verdrängte all die anderen Themen, die ein Sommer sonst so bietet.

Politik und vor allem die Sympathie-Beurteilung der Charaktere bewies sich als das einfache Diskussionsthema zur Positionsbestimmung. Aus unklaren Gründen geht die hierzulande ja nicht wie in den USA oder England über Musik und Mode.

Insofern lag Guido Westerwelle nicht so falsch, als er vor drei Jahren in den Big-Brother-Container zog. In einem Land das keine richtigen Stars hat, ist Politik die Bunte für die, die keine Bunte lesen. Politik 2005 ist ein großes öffentliches Gesellschaftsspiel um einen hohen kulturellen Preis. Als am Abend vor der Wahl der Nachwuchs der Parteien beim Menschenverwirrer Stefan Raab in Blocks sitzt und wie blöde für ihren Kandidaten schreit und trampelt, gekleidet in zu große T-Shirts, erinnert das auf die unangenehmste Art an das Jubel-Gen, sonst nur zu sehen im Vormittagsprogramm der Privatsender, in einer Fußballkneipe oder in der Regie von Leni Riefenstahl.

Muss ein Politiker nicht auch ästhetische Verantwortung und Stil haben? Bei Willy Brandt, Hildegard Hamm-Brücher oder Petra Kelly war das doch anders, oder sind sie nur verklärt in der Geschichte? Sicher ist: Vor 20 und 30 Jahren war Politik populär wie Cordhosen.

Heute kenne ich keinen, der sich in einer Partei engagiert. Das zu ändern ist das Kalkül dieser Geschichte. Hat die deutsche Politik noch eine Zukunft?

Für die Antwort treffe ich die fünf jüngsten Abgeordneten des Bundestages aller Fraktion an einem Ort ihrer Wahl.

Die Erste ist Cornelia Hirsch von der Linkspartei. Sie sitzt schon da, als ich vier Minuten zu spät komme.

An einem Tisch im Café Chagall, das ist so eine dunkle Höhle unter dem Berliner S-Bahn-Bogen, gleich hinter der Humboldt-Universität. Sonst ist eigentlich keiner da. Nach vier Minuten ist klar, das wird kein entspanntes Vergnügen. Tatsächlich wird es, nun ja, unangenehm. Cornelia Hirsch ist 25. Sie wächst auf in Bickelsberg, das ist ein kleines Dorf am Rande der Schwäbischen Alb, bei Balingen. Nach dem Abitur studiert sie Politik in Jena, wird bald Sozialreferendarin und dann in den Vorstand des „Freien Zusammenschluss von StudentenInnenschaften“ gewählt. In den Bundestag kommt sie über Listenplatz 5 der Linkspartei in Thüringen.

An diesem Sonntagmittag sieht Cornelia Hirsch nicht glücklich aus. Mundwinkel und Haare, die sind aschblond, hängen so herunter. Wir bestellen zwei Kaffee. Sie sagt zwar: „Na dann frag mal los“, aber vor der Brust verschränkt sie die Arme. Verschlossen sind auch ihre Antworten. Trotzdem erfahren wir: Sie ist aufgewachsen in einem 400-Seelen-Dorf, drei Geschwister, Eltern geschieden. Es fallen die Stichworte Jungschar und Pfadfinder. „Ich war in der SMV aktiv.“ Nein, nicht Schülersprecherin. In Jena wohnt sie im Studentenwohnheim.

Nachdem sie in den Verbandsvorstand gewählt wurde, ist sie beurlaubte Studentin. Also Funktionärin. Der Verband ist so was wie die Gewerkschaft der Studenten. Es geht da um „Themen erarbeiten, aufgreifen, sich positionieren“. Vor allem geht es um Studiengebühren, die sind, das macht Cornelia Hirsch klar, grundsätzlich „nicht akzeptabel“.

Es ist nicht so, dass der Journalist erwarten würde, ein total schlüssiges Konzept zur Lösung aller universitären Probleme zu hören. Aber die Nichtexistenz einer Idee in linkischer Verweigerung jeder Charmanz vorzutragen ist eine Beleidigung der Zeit. Cornelia Hirsch ist keine klassische Schönheit, und sie ist unsicher gekleidet. Heute ist das egal. In der Schule ist es das Wichtigste. Vor mir sitzt eine junge Frau, die offenbar sehr genau weiß, wie sich Enttäuschung anfühlt.

Interessant ist, dass sie sich für ihr politisches Engagement den größten Außenseiter aller Parteien ausgesucht hat. Intensiv beschäftigt mit der Partei und ihrer Geschichte habe sie sich nicht, auch nicht mit Gregor Gysi, der in seiner Begeisterung jeder jungen Abgeordnete der Linkspartei ein Vorbild sein sollte.

„Mir geht es um Inhalte“, sagt Cornelia Hirsch. Es bleibt ein leeres Wort. Nach einer Dreiviertelstunde muss sie weg. Die Rechnung wird bestellt. 2,40 Euro für zwei Kaffee. Sie sagt: „Getrennt bitte.“

Am Abend treffe ich Jens Spahn. Der Benjamin der CDU wartet schon ein paar Minuten zu lange in der Kastanienallee.

Aufrecht steht er da, an der Ecke. Groß, breite Schultern, dunkler Mantel, schlichte schwarze Brille. 25 ist er. Wir gehen ein paar Meter zu seinem Lieblingsjapaner. Hier sei er häufig, oft allein, dann „schaue ich Menschen“. Und überlegt sich, warum die CDU hier nur einstellige Wahlergebnisse erzielt. Die Castingallee ist die absurdeste der bunten Straßen Deutschlands. Offenes Kiffen und Prada sind okay, die Sonnenbrillen groß, aber es rollt auch die Armada der Kinderwägen. Nirgends werden mehr Kinder geboren als im Bezirk Prenzlauer Berg. „Viele der jungen Eltern leben nach zutiefst bürgerlichen Werten“, bemerkt Spahn, der mit der Jameika-Koalition sympathisiert, „auch wenn ich dafür zu Hause Ärger bekomme.“ Zu Hause ist der Wahlkreis Nordwest-Münsterland.

Als Direktkandidat wurde er 2002 zum ersten Mal in den Bundestag gewählt. In Arhaus ist er Stadtrat. Dort steht ein Castor-Zwischenlager, und Jens Spahn ist Atomkraftbefürworter und außerdem Abtreibungsgegner.

Er ist aber auch einer der Modernsten in der CDU. Die Welt ist kompliziert. Als Kind war alles einfach. Jens Spahn wächst in Ottenstein auf, einem 3.700-Einwohner-Flecken. „Relativ behütet“, sagt er. „Es gab immer eine Wiese zum Spielen, der Onkel hatte einen Bauernhof.“ Er ist Ministrant, Mitglied in der Katholischen Jungen Gemeinde, als Gruppenleiter fährt er ins Sommerlager. Wir trinken jetzt japanisches Bier, und „eigentlich können wir auch du sagen“, sagt der Jens.

Mit 15 geht er mit ein paar Freunden in die Junge Union (JU). Es hat sich so ergeben, war aber auch „Protest gegen die linken Lehrer, bei denen man sich verteidigen musste, war man nicht auf der Anti-Atom-Demo“. Er ist sich sicher: „Das Klischee vom typischen JU-ler stimmt nicht mehr.“ Auf Deutschlandtagen seien inzwischen auch Leute mit Skaterklamotten. „Spießig und langweilig“, möchte Jens Spahn bestimmt nicht sein. Er hat nicht viel geschlafen in der Nacht. Genauer war er bis um fünf am Morgen in der Panorama-Bar, vielleicht war es auch sechs. Der Club ist der aufregendste Ort der Berliner Nacht. Einer wie Norbert Geis würde dort wahrscheinlich den Herztod sterben, bevor er „Sodom und Gomorrha!“ schreien könnte.

Ich denke, es ist toll, dass einer wie Jens Spahn dort verkehrt. Als direkt Gewählter verbringt er viel Zeit in seinem Wahlkreis. Er sitzt in Arhaus im Stadtrat, dann gibt es die Ortsverbandstreffen und die vom Kreisverband und der JU. Es sei schön, alte Freunde aus der Schule und von seiner Ausbildung zum Bankkaufmann zu treffen. Mit denen geht er schwimmen und danach Bier trinken, hört deren Träume. Heiraten, Kinder kriegen, Haus bauen, was man in Westfalen halt so macht auf dem Land. Jens Spahns Traum ist das nicht. Er fährt gern Motorrad und hat Freunde in London, die er, so oft es geht, besucht.

Der Mann hat politische Überzeugungen, aber sein „Job“ ist auch der Weg aus einem Leben des Bankangestellten in der Provinz. Vielleicht nicht die schlechteste Voraussetzung, die Interessen der Wähler zu vertreten. Ob er mal Minister wird oder einen anderen Machtposten bekommt, hängt wohl davon ab „wie sehr sich die CDU in den nächsten Jahren verändert“. Oder Jens Spahn.

So angenehm wir uns unterhalten, beim Politischen, geht es zum Beispiel um Drogen oder Atomkraft, hat er meiner Meinung nach nicht nur Unrecht. Aber seine Agitation, unterstrichen durch den Zeigefinger, ist unangenehm. Nach zwei Stunden geht Jens Spahn in die Dunkelheit, Akten lesen, wie er lächelnd sagt.

Ich treffe meinen Freund Alexis. Sitzen dann im Borchardt, trinken schnell zwei Liter weißen Wein, rauchen hastig und erzählen uns was. Das vom Königlichen Kommerzialrat Borchardt 1853 gegründete Restaurant ist das Cabaret der Republik. Und wichtiger als der Bundestag. Nicht weil Gerhard Schröder hier Wiener Schnitzel isst und Angela Merkel Entrecote, sondern weil auch Iris Berben, Stefan Aust und Thomas Gottschalk da sind.

Außerdem Verleger, Makler, Lobbyisten und Schönheitschirurgen, also alle die in diesem Land etwas entscheiden. Im Borchardt kannst du alles bekommen, einen Job, eine Baugenehmigung, Liebe für die Nacht oder ein paar rezeptfreie Pillen. Manchmal gibt es auch einfach was zu sehen: Um halb zwölf stürmt eine große Blonde durch die Tür, schmaler Streifen Jeansrock über der schwarzen Strumpfhose. Sie schreit: „Gibt’s hier noch was?“ Es ist Jenny Elvers-Ebertzhagen, Schauspielerin, bekannt durch ihre Beziehungen mit Farin Urlaub, Udo Jürgens, Heiner Lauterbach und dergleichen.

Gleich stürmt eine andere Blondine heran. Ah, oh, welch Freude! Busseln, umarmen. Sie trägt einen grün wallenden Schal am Hals und heißt Claudia Roth. Nichts ist, wie es scheint. Und am Ende ist alles ein Spiel.

Lesen Sie Montag: Mehr aus dem Borchardt, Florian Toncar von der FDP, Mensch Sabine Bätzing (SPD), unsere Anna (grün und frisch) und noch ein Treffen mit Cornelia Hirsch.