Die 89er der DDR

VON NICK REIMER

Kirche, Karriere, Kultur – die Biografien von Angela Merkel, Wolfgang Tiefensee, Dieter Althaus und Matthias Platzeck haben viel gemein. Diese Gemeinsamkeiten scheinen sie zu befähigen, sich durchzusetzen in der Berliner Republik. Was dem Osten von Soziologen und Zweckoptimisten immer wieder vorhergesagt wurde, wird spätestens mit einem SPD-Parteivorsitzenden Matthias Platzeck eintreten: Nicht mehr die 68er, sondern die 89er Generation mit DDR-Biografie hat jetzt das Sagen.

Aus diesen Biografien lässt sich sehr viel herleiten: Die Akteure standen in Opposition zum System und haben in diesem dennoch Karriere gemacht. Das ging nur, weil sie sowohl ein feines Sensorium für Gefahren sowie auch Methoden zur Konfliktbewältigung entwickelten. Eben weil sie nicht jenem Menschenbild entsprachen, das in der DDR gefördert wurde, mussten sie stets besser sein als die anderen.

Merkel, Tiefensee, Platzeck, Althaus – alle sind Mitte der 50er-Jahre geboren. Anders als bei der zehn Jahre älteren Politiker-Generation aus dem Osten, anders also als bei Thierse oder Gysi, hat der Bau der Mauer in ihrem Leben keine einschneidenden Spuren hinterlassen. Platzeck, der Älteste, war beim Bau der Mauer sieben Jahre alt, Althaus, der Jüngste, gerade drei. Politisch zu denken begann die Generation zu Beginn der Honecker-Ära, die von der Entspannung, der Öffnung gegenüber dem Westen und einem – wenn auch bescheidenen – wirtschaftlichen Aufschwung gekennzeichnet war. Ihre berufliche Karriere begann sie Mitte der 80er-Jahre, in einer Zeit, in der die SED die Politik der „guten nachbarschaftlichen Beziehungen“ propagierte.

Merkel, Tiefensee, Platzeck und Althaus, alle stammen aus Familien, die der Kirche angehörten und damit in Opposition zur SED standen. Platzecks Mutter ist Pastorentochter, Merkel ebenso. Ihr Vater war Mitte der 50er aus Hamburg nach Brandenburg gegangen. Althaus und Tiefensee sind Katholiken. Tiefensees Bruder ist heute Theologie-Professor in Erfurt.

Auffällig ist, dass es den vier trotz Systemopposition gelang, eine berufliche Karriere zu starten. Angela Merkel brachte es aus dem Brandenburger Provinznest Templin als Wissenschaftlerin bis an die Akademie der Wissenschaften. Mit 32 hatte sie promoviert und war danach eine der wenigen, die auf dem Gebiet der Quantenchemie forschte. Wolfgang Tiefensee hatte als Katholik den Wehrdienst verweigert, was in der DDR quasi automatisch die Nichtzulassung zum Studium bedeutete. So machte der heutige Oberbürgermeister Leipzigs eine Ingenieursausbildung und arbeitete dann beim Fernmeldeamt. Neben seinem Job aber absolvierte er neun Jahre lang gleich zwei berufsbegleitende Fernstudien. Um schließlich Entwicklungsingenieur an der Technischen Hochschule Leipzig zu werden – ein Traumjob in der DDR.

Platzeck, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Karl-Marx-Städter Institut für Lufthygiene begann, arbeitete sich zum Abteilungsleiter der Hygiene-Inspektion in Potsdam hoch. Zwar verweigerte der heutige Ministerpräsident Thüringens Dieter Althaus die Jugendweihe – und damit das Bekenntnis zum „sozialistischen“ Staat. Dennoch wurde er Physiklehrer im sozialistischen Bildungssystem – und 29-jährig zum stellvertretenden Schulleiter.

Keiner der vier wurde während der Wende bis ganz nach oben gespült. Angela Merkel war Sprecherin von Lothar de Maizière, dem letzten DDR-Ministerpräsidenten, Tiefensee übernahm das Leipziger Schulamt, Althaus das in seinem Heimatkreis – die Transformation des sozialistischen Bildungssystems in ein humanistisches galt in der finalen DDR als eines der zentralen Themen. Der heutige Ministerpräsident Brandenburgs, Matthias Platzeck, schließlich wurde Fraktionsgeschäftsführer von Bündnis 90 in der Volkskammer.

„Überholen ohne einzuholen“, dieser alte SED-Slogan könnte auch für das Leben von Merkel und Co. gelten: Sie mussten einfach besser sein, zäher arbeiten als jene, die sich mit dem System arrangiert hatten. Dass all dies offenbar politische Ausnahmetalente hervorgebracht hat, sieht man zudem daran, dass man ähnliche Entwicklungen vergeblich sucht. Pfarrersohn Markus Meckel begab sich nicht in die DDR-Gesellschaft, sondern als Pfarrer an seine Peripherie. Gunda Röstel gab den Versuch auf, sich durch bessere Leistungen gegenüber den Sozialisten zu profilieren – sie stellte einen Ausreiseantrag. Cornelia Pieper studierte Polnisch und Russisch am roten Kloster, wie die Karl-Marx-Universität in Leipzig genannt wurde.