Erfolg in Bayern

Nachrichten vom Tage, an dem Bayerns Musterschule plötzlich zur ungerechtesten Schule der Nation wurde. Wie sich der Krampf ums Gymnasium in Bayerns Familien anfühlt

„Das Problem wird gesehen. Es ist nicht so, dass wir alles schönreden wollen“

VON CHRISTIAN FÜLLER

Er heißt Leon und ist jetzt acht. Ein drahtiger Bursche, ein fröhlicher Junge. Doch neuerdings, wenn Leon nachmittags noch im Oktober barfuß in den Garten rennt, tut er es auch, um zu fliehen. Macht nicht gerne Hausaufgaben, liebt das Lesen kein bisschen. Eine Krise kriecht in das bayerische Haus. Aus der Schule senden Lehrer kritische Rückmeldungen. Zudem, Leon ist jetzt in der Zweiten, wandelt sich das Lernen vom verstehenden Lesen hin zum prüfbaren Lesen. Immer öfter Diktate. Bei einer Übung erkennt er als Einziger in der Klasse den Knollenblätterpilz. Aber es nützt nichts, er wird auch diesmal kein Lob bekommen, weil er die Knolle nur mit einem l schreibt. Den Fehler streicht die Lehrerin rot an. Die Eltern sind nervös. Sie wissen: In zwei Jahren schon fallen hier in Bayern die Würfel.

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An dem Tag, da Bayern plötzlich Pisa-Letzter ist, schweigen die Sprecher. Der Minister auch. Es gebe Vereinbarungen, lässt Kultusminister Siegfried Schneider (CSU) mitteilen, bis Donnerstag nichts zu sagen. Dann wird der Pisa-Bundesländervergleich von seinen Kollegen in Berlin offiziell vorgestellt. Dann erst wird bekannt gegeben: Ein Oberschichtkind hat in Bayern eine sechseinhalbmal so große Chance, aufs Gymnasium zu kommen, wie ein Unterschichtkind. Bei gleicher Leistung! Nur so viel vielleicht, sagt der Sprecher und übermittelt einen O-Ton des Ministers: „Wer Bildungserfolg nur beim Übertritt auf das Gymnasium sieht, missachtet die Leistungen der Haupt- und Realschüler.“

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Jürgen hatte nie Lust am Lesen. Heute ist er 22 und trotzdem zufrieden, abgesehen von einer Art Akademikerhass. Jürgen, den seine Mutter stets bedrängt hatte, in die Real- oder Oberschule zu gehen, machte das halt nicht. Später, inzwischen war er Zimmermann mit sehr guten Noten und erstklassigen Werkstücken, versuchte er das Abi nachzuholen. Er besuchte den zweiten Bildungsweg. Doch der Lehrer dort frisst sein Selbstvertrauen. Nach der ersten Prüfung schon, eine Textanalyse, ermahnt er ihn, laut, vor der ganzen Klasse. „Jürgen, so wird das nichts. Das waren zu viele Fehler, da müssen wir mal schauen bis Weihnachten, ob das Sinn macht mit dir.“ Damals war Jürgen 19. Seitdem mag er Akademiker nicht.

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Um Montag um 15.55 Uhr bricht das Ministerium sein Schweigen. Eine Agentur verbreitet, Bayerns Schule sei nicht etwa ungerecht, sondern supergerecht. „In Bayern“, heißt es, „ist die Chancengleichheit am größten.“ Im Freistaat habe die soziale Herkunft der Schüler im bundesweiten Vergleich den geringsten Einfluss auf das Wissen. Der schweigende Sprecher spricht wieder: „Kinder aus Familien mit sozial schwierigen Rahmenbedingungen kommen in Bayern am besten zu schulischem Erfolg“, sagt er. Schneller Anruf in München, ob der Minister sich nun doch äußere. Nein, bescheidet der Sprecher, diese Äußerungen bezögen sich auf die Pisa-Daten vom Juli. Die neuen Daten seien noch nicht offiziell, zu denen äußere man sich nicht.

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Dass sie es damals nicht aufs Gymnasium schaffte, wurmt sie noch heute. Immerhin, es ist über 30 Jahre her jetzt. Auch ihrer besten Freundin Petra, Tochter der örtlichen Hoteliersfamilie, fehlten damals die Noten zum Übertritt ins Gymi. Aber bei der war es dann doch irgendwie gegangen. Kein Wunder, dass man hinterher munkelte, die Reichen hätten irgendeinen Einfluss, der den einfachen Leuten abgehe. Der Druck, der in den Jahren des Nichtübertritts ins Gymnasium auf der Familie lastete, war enorm. Sie war die Erste von drei Kindern. Der avisierte Aufstieg in höhere Sphären schien plötzlich versperrt. Die Eltern, aus dem Milieu der Hauptschüler, hatten es zu Arbeitgebern gebracht. Nun scheiterte schon die Erste von denen, die es einfacher haben sollten auf dem Weg nach oben.

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An jenem Wochenende, das Bayern zum Pisa-Letzten machte, hielt der Minister in Augsburg eine Rede. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband sprach danach von einem „schulpolitischen Quantensprung“. Und auch Siegfried Schneider benutzt im Mozartsaal der Augsburger Kongresshalle ein Vokabular, das der GEW gut zu Gesicht stünde. Keine Schulform darf in eine Sackgasse führen, sagt der Minister. Er will die FOS und die BOS zu einer Art beruflichem Gymnasium zusammenlegen. Sowohl die Fachoberschule als auch die Berufsoberschule sind Schulzweige, die denen in Bayern das Abi nachliefern, die es vorher versäumt haben. Aber nur das Fachabitur. Würde der Minister seinen Quantensprung wahr machen, dann wäre es ein echtes Abitur. Entsprechende Schulversuche hat Schneider übrigens schon durchführen lassen – mit Erfolg.

„Das Problem wird gesehen“, sagt der Sprecher. „Es ist nicht so, dass wir alles schönreden wollen.“