Mit Platzeck zieht die neue Zeit

Er ist der Anti-Münte: Der neue SPD-Chef verkörpert einen integrativen Führungsstil. Ob er die Partei auch programmatisch neu ausrichtet, ist noch unklar

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Es gibt noch Ereignisse in diesem Land, die einem das wärmende Gefühl geben, alles gehe seinen gewohnten Gang. Gerhard Schröder, falls das jemand vergessen haben sollte, immer noch amtierender Bundeskanzler, hat für Freitag einen Krisengipfel einberufen. Er will die von der Schließung bedrohten deutschen Werke des Aluminiumherstellers Norsk Hydro retten. Das ist uneingeschränkt zu loben. Schröder macht wieder mal den Holzmann. Er hält den ganzen Laden am Laufen. Zeit genug hat er ja.

Macht es da was, dass um ihn herum alles zusammenbricht – die Parteien, die Gewissheiten, der Mythos Münte, die Akte Stoiber, das Vertrauen der Bevölkerung in ihre politische, nun ja, Klasse? Ja, das macht etwas aus, denn dort, wo etwas zusammenbricht, bleiben Trümmer zurück, und aus diesen Trümmern steigt früher oder später das Neue, Unbekannte empor. Etwas, das ganz anders ist als das, was Schröder gewesen sein wird. Manchmal passiert das sogar rasend schnell. Am Dienstagabend zum Beispiel, vor der brandenburgischen Landesvertretung in Berlin, da steigen elf, zwölf Sozialdemokraten aus ihren Dienstwagen. Der Zusammenbruch der Schröder-Müntefering-SPD liegt gerade mal 28 Stunden zurück. Diese Genossen hier, die im Nieselregen an den Fernsehkameras vorbeihuschen und dabei einige Irritationen auslösen, weil nicht alle Journalisten mit allen Gesichtern etwas anfangen können, diese Genossen also erschaffen gerade nicht mehr und nicht weniger als – die neue SPD.

Matthias Platzeck, Kurt Beck, Sigmar Gabriel, Ute Vogt, Christoph Matschie, Klaus Wowereit, Heiko Maas, Marin Schulz, Jochen Dieckmann und ein paar andere: Sie sind jetzt die Partei nach Münte, ihrem letzten großen Vorsitzenden, der noch wusste, wie Arbeiterbewegung riecht. Ministerpräsidenten, Landesvorsitzende, Europapolitiker, alle zwischen Ende dreißig und Mitte fünfzig, allesamt Pragmatiker, unideologisch, kompetent, ein bisschen langweilig. Sie signalisieren Unterstützung für das, worauf sich Platzeck und Beck vorher unter vier Augen geeinigt haben – dass der brandenburgische Ministerpräsident neuer SPD-Chef wird. Sie bereden, wie die neue Führungsriege insgesamt aussehen soll. Sie diskutieren, wie endlich ein offenes Gesprächsklima in der Partei geschaffen werden kann, damit nicht länger, wie es ein Teilnehmer dramatisch formuliert, „jede innerparteiliche Auseinandersetzung mit Toten endet“.

Martin Schulz, Vorsitzender der Sozialdemokraten im Europaparlament, schwärmt hinterher, er habe seit Jahren nicht mehr an einer parteiinternen Runde teilgenommen, die so offen, so ehrlich und gleichzeitig so konstruktiv gewesen sei – ohne Schröder wohlgemerkt, aber mit Müntefering übers Telefon ständig verbunden. Dass sich am nächsten Morgen einige Vorstandsmitglieder beschweren, da habe ein „Freundeskreis“ über die Parteigremien hinweg die Führung ausgekungelt, gehört offenbar zu den nicht zu vermeidenden Geburtswehen der neuen Zeit. Am Mittwochabend durften Präsidium und Vorstand das Personalpaket absegnen.

Die Zustimmung war nur noch eine Formsache. Zu groß ist die Krise der Partei, zu groß auch der Druck der Koalitionsverhandlungen – und zu groß ist wohl auch der Reiz des Neuen, bei allen Befürchtungen. Dass die Personalie Platzeck die sofortige Herstellung der Zukunft der Partei bedeutet, darüber sind sich in der SPD flügelübergreifend alle einig. Kurt Beck, der erfolgreiche Ministerpräsident aus Rheinland-Pfalz, der aufgrund seiner Erfahrung das erste „Zugriffsrecht“ auf die Parteiführung gehabt hätte, aber darauf verzichtet hat – er wäre nur ein Vorsitzender des Übergangs gewesen. Umso mehr wird jetzt Platzeck gelobt. „Er pflegt einen erfrischend anderen Politikstil, ist offen und kann hervorragend integrieren“, sagt die stellvertretende Parteichefin Ute Vogt. „Er ist pragmatisch und ohne Lagerdenken“, sagt der Thüringer Landesvorsitzende Christoph Matschie. „Er verkörpert den Generationswechsel und einen Aufbruch nach vorn“, sagt Hubertus Heil, Sprecher der jungen „Netzwerker“.

Es fällt auf, wie sehr bei Platzeck die Frage seines politischen Stils in den Vordergrund gerückt wird – und weniger die nach seinen politischen Positionen. Das zeigt noch einmal an, wie schwer beschädigt die Partei vom autoritären Führungsstil Schröders und Münteferings ist. Und wie sehr sie die Auseinandersetzung um Nahles oder Wasserhövel als neuen Generalsekretär als Stil- und Führungsfrage angesehen hat – und nicht etwa als Flügel- oder Richtungsstreit. Die neue Generation muss jetzt ihren eigenen Stil finden und das dazu passende Führungspersonal. Platzeck als lernender Vorsitzender, Müntefering als starker Mann der großen Koalition an seiner Seite, Beck als „erster“ Stellvertreter, dazu als weitere Parteivize Peer Steinbrück, Ute Vogt, Christoph Matschie und wohl Andrea Nahles, ein politischer Generalsekretär, für den der junge Hubertus Heil gehandelt wird – so sieht die künftige Parteispitze aus.

Was das für die politische Ausrichtung der SPD bedeutet? Unklar. Platzeck bezeichnet sich als einen „Rot-Grünen mit konservativen Zügen“. Das macht ihn offenbar zur idealen Projektionsfläche für allerlei Hoffnungen. „Er führt in Brandenburg erfolgreich eine große Koalition und setzt auch unpopuläre Maßnahmen durch“, sagt Klaas Hübner, Sprecher der rechten „Seeheimer“. Der Linke Niels Annen glaubt, dass man mit Platzeck über „Akzentverschiebungen innerhalb des notwendigen Reformkurses“ diskutieren kann. Wenn sich die Parteilinke da mal nicht täuscht. Platzeck führt in seiner Heimat ja nicht ohne Grund eine große Koalition an – und nicht etwa ein Bündnis mit der PDS. Im Landtagswahlkampf 2004 hat Platzeck bewiesen, wie er Politik macht: populär, aber nicht populistisch. Er hat die Menschen für ihre Opferbereitschaft gelobt – Hartz IV und Agenda 2010 trotzdem mit voller Überzeugung verteidigt.

„Der Westen ist ein bisschen zu bequem geworden, um noch in jeder Hinsicht ein leuchtendes Vorbild zu sein.“ Ein wahrer Satz. Er charakterisiert irgendwie auch die SPD. Gesagt hat ihn im vorigen Jahr – Matthias Platzeck. Jetzt kann er zeigen, wo die neuen sozialdemokratischen Vorbilder leuchten.