SPD UND UNION MISSACHTEN DAS GERECHTIGKEITSGEFÜHL DER MEHRHEIT
: Konsumenten zahlen für Firmen

Chaos bei den Koalitionsverhandlungen? Aber nicht doch. Zwar mögen die Personalien gelegentlich überraschen, bei den Sachfragen hingegen läuft bisher alles nach Plan. Zum Beispiel bei der Mehrwertsteuer. Sie dürfte auf 18 Prozent steigen, was nicht wirklich erstaunen kann. Die Union hatte bereits in ihrem Wahlprogramm angekündigt, dass sie die 18 Prozent anpeilt. Und der Widerstand der SPD war eher taktisch. Sie wollte die Wähler nicht verärgern und wusste doch, dass die Steuern steigen müssen, um den Haushalt zu sanieren.

Genauso überraschungsfrei ist ein zweiter Beschluss von gestern: Es soll 2008 eine „große Steuerreform“ für Unternehmen geben; 19 Prozent werden sie wahrscheinlich nur noch zahlen. Eine Gegenfinanzierung ist bisher nicht in Sicht. Das passt bestens, hatte doch bisher noch jede Steuerreform das gleiche Ergebnis: Die Firmen überwiesen hinterher weniger Geld an den Staat.

Doch auch wenn die einzelnen Beschlüsse nicht erstaunen, überraschen sie doch in ihrer Kombination: Union und SPD wiederholen den größten Fehler, den sie in der letzten Legislatur in Bundestag und Bundesrat begangen haben. Sie ignorieren das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit. Letztes Mal haben sie den Spitzensteuersatz für Gutverdienende gesenkt und gleichzeitig versucht, mit Hartz IV bei den Langzeitarbeitslosen zu sparen. Diesmal belasten sie die Konsumenten – und beschenken die Unternehmen.

Diese fiskalischen Maßnahmen verändern und versehren die kollektive Psyche. 90 Prozent der Deutschen glauben inzwischen, dass die Armen ärmer und die Reichen reicher werden. Das will fast niemand tolerieren. Union wie SPD wurden bei der letzten Wahl abgestraft, aber sie scheinen die Botschaft nicht zu verstehen. Das zeigt auch der dritte Beschluss von gestern: Die Koalitionäre wollen ein Elterngeld einführen, das einkommensabhängig ausfällt. Die Kinder von Besserverdienenden sind dann mehr wert als jene aus den Unterschichten. Die Politik der Spaltung wird also konsequent fortgesetzt – ausgerechnet von einer Koalition der Volksparteien. ULRIKE HERRMANN