Die Grenzen neuer Heimat

Die Bilder von den Randalen in den Pariser Vororten wirken aus deutscher Sicht exotisch. Dabei ist die proletarische Migrantenquote nicht geringer als in Frankreich. Warum brennt Kreuzberg nicht?

VON JAN FEDDERSEN

Mühsam halten sich die Berichte über die Regierungsneubildung in den Nachrichten an erster Stelle – spektakulärer, in der Logik des Mediums Fernsehen, sind jedoch die Bilder, die in Frankreich gemacht werden: von den Unruhen in den Pariser Vororten. Flammen sieht man, aufgeregte Menschen, fassungslos Staunende vor brennenden Polizeiautos: Gut möglich, dass es noch mehr zu sehen geben wird – denn die Täter, die Unruhigen eben, wissen, dass der Stoff, um den es ihnen geht, Aufmerksamkeit nämlich, nicht unterhalb einer bestimmten Schwelle von Sensationalität zu haben ist. Also wird gekämpft – und Bürgerkrieg gespielt. Nur ein solches Feuerwerk vermag televisionäre Berühmtheit einzufädeln, sie überlieferungs- (und traditions-) fähig zu machen: Hey, weißt du noch, damals in Clichy, ich war dabei, krass, wa?

Mit Krawall ins Leben

Tatsächlich wirken auf uns in Deutschland, das keine geringere proletarische Migrantenquote hat als das oft gelobte, republikanische Frankreich, diese Kaskaden an visuell eingefangener Destruktion fremd und auswärtig. Komisch, dieses Ausland. Dabei liegt Frankreich quasi vor der Tür. Warum also brennt nicht Kreuzberg auch, wieso scheint möglicherweise Gärendes im Hamburger Schanzenviertel oder im Kölner Mülheim nicht zu explodieren?

Die Probleme sind doch, Experten sind sich so einig wie selten, ähnlich. In erster Linie verpassen die Sprösslinge aus muslimischen Einwandererfamilien – mehr oder weniger erschwert durch ein leistungsorientiertes Bildungssystem, das in ihren Clans eher wenig gilt – den Sprung in ein Leben, das Teilhabe am bürgerlichen Alltagsdesign ermöglicht. Es sind jugendliche Männer, die im Krawall körperlich das ausagieren, was ihnen anders nicht gelingt. Selbst Ausbildungsplätze im Autoschraubergewerbe verheißen zunächst Disziplin und Lernen – und kein Leben in Saus und Braus.

Der Unterschied zu Frankreich ist nur: Hier in Deutschland ist die Integration von Einwanderern, muslimisch geprägten zumal, oft besser gelungen – weil sie stärker erkämpft werden musste. Den Pass gab es nicht so schnell wie in Frankreich, Deutschland macht es Migranten schwerer als La Grande Nation. Die formale Eingliederung ist eben noch keine Versicherung, allenfalls die Eintrittskarte. Wer als Italiener, Spanier, Portugiese, Türke oder Jugoslawe nach Deutschland kam, wusste, dass man an Kardinaltugenden wie Fleiß und Disziplin anknüpfen konnte, um Respekt zu erlangen. Wer es zu was brachte – und hunderttausende schafften ebendies –, war noch nicht reif für das Kaffeekränzchen in großbürgerlichen Kreisen, für alles andere sehr wohl.

Chance ohne Opferkarte

Dem früher notorischen Rassismus von vielen ist eine Achtung der meisten inzwischen beigestellt: Man hat sich aneinander gewöhnt. In Deutschland, anders als in Paris, war das bürgerliche Gleichheitsversprechen an formelle Bedingungen geknüpft. Und informell längst zur Tatsache geadelt.

Anders als in Frankreich verstehen sich jugendliche Männer aus Einwandererfamilien nicht auf die Übung, die Opferkarte zu ziehen – und nicht dauernd beleidigt zu sein, wenn etwas nicht gelingt. Rassismus? Na, dann habe ich eben die bessere Geschäftsidee. Deutschland ist gesellschaftlich missmutiger gestrickt – und koloriert sich nicht ständig so prachtvoll, um sich als multikulturell lupenrein zu begreifen. Man nimmt übel – aber auch hin: Weil Deutschland das härtere Pflaster war (und ist), hat man als Aufsteigerkind Besseres zu tun als darauf stolz zu sein, die eigenen Quartiere zu No-go-Areas zu machen. Die deutsche Gesellschaftsstruktur, die auf Gewöhnung setzt und die Kraft des Alltags, ist ein zähes Ding: Wer es schaffen will, muss sich zusammen reißen. Na und?