„Wir sind außen vor“

Wie ist es, sich in Uganda mit einer Kamera vor ehemalige Kindersoldaten zu stellen? Ali Samadi Ahadi und Oliver Stoltz über Entstehung und Folgen ihres preisgekrönten Films „Lost Children“

VON DOMINIC JOHNSON

taz: „Lost Children“ ist ein Film über ein sperriges Thema: die Erlebnisse von Kindersoldaten in einem der brutalsten Kriege der Welt. Wie kommen Sie darauf, dass sich ein Kinozuschauer das angucken will?

Oliver Stoltz: Es ist zwar ein Film, der im Krieg stattfindet, aber er zeigt nicht die Gewalt des Krieges, sondern der Zuschauer kann daran teilhaben, wie Kinder es schaffen, wieder zu Kindern zu werden, mit der Hilfe der zwei Sozialarbeiter John Bosco und Grace, die ihr Leben riskieren für ihr eigenes Volk. Das ist etwas Inspirierendes.

Diese Kinder, die im Norden Ugandas von Rebellen gekidnappt wurden und dann wieder fliehen konnten, haben fürchterliche Dinge erlebt. Sind diese Erlebnisse für Außenstehende nachvollziehbar?

Ali Samadi Ahadi: In Deutschland haben Mütter ihre Kinder verhungern lassen oder sie getötet und in Blumentöpfe gesteckt. Ist das nachvollziehbar?

Wie nähert man sich dem? Man kann sich ja nicht einfach in Uganda mit einer Kamera hinstellen und dann erzählen die Kinder eine Geschichte.

Ali Samadi Ahadi: Oliver und ich sind vor unserem Team angereist und haben zwei Wochen mit den Kindern im Auffanglager verbracht, mit ihnen gespielt, dasselbe Essen gegessen, dieselben Tänze getanzt, mit ihnen Fußball gespielt, Geschichten erzählt, ihnen mit Medikamenten geholfen. Und so haben die Kinder gemerkt, dass wir keine Außerirdischen sind. Als wir dann später mit den Dreharbeiten anfingen, war die Kamera überhaupt nicht mehr wichtig, denn das waren Ali und Oliver. Es war auch wichtig für uns, dass die uns nicht wie rasende Reporter sehen, die schnell was drehen wollen, am besten Kinder mit dem Gewehr in der Hand, das im Busch rattert.

Was hatten Sie vor den Dreharbeiten für eine Vorstellung von den Kindern?

Ali Samadi Ahadi: Die war nicht weit von dem entfernt, was wir gefunden haben: Es sind Kinder, die missbraucht und misshandelt worden sind.

Oliver Stoltz: Aber wir hatten nie Angst vor ihnen. Wir haben sie nicht als Killermaschinen erlebt.

Ali Samadi Ahadi: Krieg heißt Töten. Aber nicht jeder, der kämpft, ist ein böser Mensch. Das hat uns auch die Türen geöffnet, weil die Kinder gemerkt haben, dass wir mit ihnen respektvoll umgehen. Wir haben ihnen nicht ständig das Gefühl gegeben, dass sie uns ganz furchtbar leidtun. Natürlich tun sie uns leid, aber wir haben sie als Menschen behandelt.

Die Schicksale der Kinder, wenn sie zu ihren Familien zurückkommen, sind ja sehr zwiespältig. Einerseits haben sie Schreckliches erlebt und man versucht, ihnen ein neues Leben zu ermöglichen; andererseits hatten sie als Soldaten Macht, und jetzt haben sie nichts mehr zu sagen.

Oliver Stoltz: Die Schwierigkeit ist, dass sie vom Alter her Kinder sind – aber vom Geist her Erwachsene. Nur eben Erwachsene ohne eine entsprechende Ausbildung. Und man muss ihnen helfen, möglichst schnell auf eine eigene Bahn zu kommen …

was in der Situation eigentlich gar nicht geht …

Ali Samadi Ahadi: Es geht schon. Wenn man sich die 13-jährige Jennifer anschaut, die jahrelang Soldatin war: Die hatte von Anfang an eine klare Idee. Sie will nicht zu ihrem Vater, sie will auch nicht bei ihrer Mutter bleiben. Sie geht zu ihrer Mutter, aber wenig später findet sie einen Mann. Heute hat sie eine Familie. Es gibt Schwierigkeiten – ihr Sohn hat eine Hasenscharte, ihr Vater will ab und zu Geld von ihr – gemessen an den Schwierigkeiten vorher ist das trivial.

Gerade die Familien kommen zum Teil sehr traditionalistisch daher, sehr kalt. Die Kinder haben sich einfach zu fügen. Ist die Gesellschaft des Acholi-Volkes in Norduganda tatsächlich so?

Oliver Stoltz: Wir haben uns gefragt: Ist das die Tradition oder hat der Krieg ein ganzes Volk so zerstört, dass sie gar nicht mehr in der Lage sind, Gefühle zu zeigen? Die Antwort liegt wahrscheinlich dazwischen. Von den vier Familien waren drei sehr kalt, und eine war sehr warm. Aber man muss sehen, dass die Familien vor immensen Problemen stehen. Wenn da plötzlich ein Esser mehr am Tisch sitzt, kann es sein, dass die anderen zehn nicht mehr genug haben. Da überlegt man sich schon, ob man ihn aufnimmt.

Ali Samadi Ahadi: Zumal es ein Esser ist, der getötet hat.

Oliver Stoltz: Dieser Esser ist vor den Rebellen geflohen, also ist seine Anwesenheit ein Risiko. Und wenn ich ihm sage: Setz dich hin und halt den Mund! – wird er mich angreifen?

Als die Kinder zu ihren Familien zurückkamen und Sie das gefilmt haben – war das tatsächlich das erste Mal, dass die sich gesehen haben?

Ali Samadi Ahadi: Meistens, außer bei Jennifer – die hatte ihre Mutter schon vorher getroffen. Aber bei Opio, Francis und Kilama war das so.

War es ein merkwürdiges Gefühl, mit dem Filmtross zu ihren Familien zu kommen?

Ali Samadi Ahadi: Man versucht, sich einfach auszuradieren und nicht da zu sein.

Man ist aber da.

Ali Samadi Ahadi: Ja, aber das Ereignis ist so bewegend, dass man nicht wirklich wahrgenommen wird. Normalerweise, wenn man in Afrika dreht, bilden neugierige Kinder eine Riesenschar um einen herum. Aber als Francis und seine Mutter sich zum ersten Mal treffen und sich wahnsinnig freuen, da ist die Kamera total unwichtig. Die Attraktion ist die Mutter mit dem Sohn. Da sind wir außen vor.

Hat Sie je jemand gefragt: Was wollen Sie hier eigentlich?

Ali Samadi Ahadi: Immer wieder. Dorfmitbewohner sagen: Wir leiden hier jeden Tag, ihr kommt her und filmt, und was haben wir davon?

Was sagen Sie dann?

Ali Samadi Ahadi: Dass wir ihre Probleme in Europa thematisieren wollen. Und in Pajule im Lager war für uns ganz klar: Wir können die Menschen nicht verlassen und so tun, als ob wir nie hier gewesen sind. Wir haben ein Hilfsprojekt gestartet, um medizinische Versorgung zur Verfügung zu stellen.

Also folgt aus dem Film auch etwas für die Leute …

Ali Samadi Ahadi: Die vier Kinder kriegen eine Schulausbildung, einen Start ins Leben von uns beiden. Ansonsten versuchen wir, für dieses Hilfsprojekt in Pajule Geld zu sammeln.

Wird der Film in Uganda gezeigt?

Oliver Stoltz: Das liegt in den Händen der beiden Sozialarbeiter John Bosco und Grace. Sie haben von uns den Film bekommen mit der Aufgabe, ihn dort zu zeigen, wo sie meinen, dass es wichtig ist, und darauf zu achten, dass den Kindern dadurch kein Schaden entsteht.