Die Welt zwischen zwei Sekunden

Wie sich Stillstand und Richtungslosigkeit erzählen lassen: Thomas Lehrs sprachlich wie konzeptuell beeindruckender Roman „42“

VON KARSTEN KREDEL

Fühlt es sich an heißen Sommertagen nicht manchmal so an, als bliebe die Zeit stehen? Gegen Mittag, wenn die Hitze Schwindel und Hellsichtigkeit erzeugt, wenn man sich der eigenen Körperkapsel in ihrer grell ausgeleuchteten Umgebung zunehmend bewusst wird – ist es dann nicht so, als verginge Sekunde um Sekunde langsamer, bis eine schließlich mit einem letzten, verzerrten Ticken schwer zu Boden tropft?

In seinem neuen Roman stülpt Thomas Lehr eine Hitzeglocke über die Welt und hält die Zeit an, und das ist keine Impression und keine Metapher, sondern ein überprüfbarer, wenn auch unlogischer Fakt, selbst nach den Erkenntnissen jener Spielarten der Physik, die unser herkömmliches, von der Mechanik geprägtes Vorstellungsvermögen von Raum und Zeit überfordern: Alles ist erstarrt, der Energiezustand eines zufälligen Moments konserviert; Menschen verharren in Schnappschussposen, Flugzeuge hängen in der Luft, selbst die Hitze flimmert nicht mehr. Es herrscht vollkommene Stille. Die Welt ist in einen Dornröschenschlaf gefallen, doch es gibt keine begrenzende Dornenhecke, kein Außen. Dafür siebzig Menschen, die von den Gesetzen der „Neuen Physik“ verschont bleiben.

Sie sind – ja was? Lebendig geblieben? Das trifft es nicht, denn die anderen, wie in „Aspik“ Eingelegten, zwischen denen sie umhergehen wie in einem „Skulpturenpark“, leben auch noch. „Chronifizierte“ sind sie – ihre Zeit läuft weiter, sie tragen sie mit sich herum als unsichtbare Kapsel. Im Laufe des Romans altern sie und gebären sogar Kinder, während der Rest der Menschheit im Standbildmodus verharrt. Was aber ist passiert? Hat sich zwischen zwei Momenten eine Spalte aufgetan? Sind sie die einzigen Geretteten oder die einzigen Opfer? Jedenfalls ist zu vermuten, dass beides, das unfassbare Ereignis und ihre eigene Ausnahmeposition, mit einem Ort in Verbindung steht, den sie, eine Gruppe von Journalisten und Wissenschaftlern, kurz vorher besichtigt haben: einen unterirdischen Teilchenbeschleuniger des Cern, eines Forschungsinstituts für Teilchenphysik in der Nähe von Genf. Sie sind mit dem Bus angereist, haben einen Lift bestiegen, und als der sie zurück ans Tageslicht brachte, war und blieb es 12:47 Uhr. Und 42 Sekunden.

Und nun? Was soll man tun, entbunden von jeder Verpflichtung? Wer ist man, wenn dem Leben sozusagen die Tiefendimension abhanden kommt? Und: Wie lassen sich Stillstand und Richtungslosigkeit erzählen? Thomas Lehr gibt seine Antworten in einem sprachlich wie konzeptuell beeindruckenden Roman, der allerdings mit seiner Regelhaftigkeit Kurzweil und Empathie von vornherein ausschließt. Weder umgarnt er mit philosophischen Artigkeiten, noch fesselt er mit dramatischen Handlungsbögen. Schon gar nicht will er en passant in die Physik der Elementarteilchen einführen. Was er aber abverlangt, ist zugleich sein größtes Geschenk: Konzentration. Wer langen Atem hat, erlebt ein eloquentes literarisches Staunen, das konsequent Form und Inhalt in Übereinstimmung bringt. Eine meisterhafte Phänomenologie der märchenhaften Welt zwischen zwei Sekunden.

Der Erzähler registriert zunächst seine Panik: „Erstickungsängste, Herzrasen auf offener Straße, ein Messer wollen, um die wahnsinnige Leinwand um dich herum aufzuschlitzen und durch die Wunde der falschen Luft ins Leben zurückzukehren.“ Dann kommt die Zeit der Theorien, die nach und nach an der harten Evidenz der Phänomene zerschellen – wieso funktioniert der Herzschrittmacher, nicht aber der Solarrechner? Es gibt Aktionismus, Kämpfe, doch alles wirkt temperamentlos, wie ein müder Reflex. Alle sind viel zu vereinzelt in ihren Zeitkapseln, ihren kleinen parallelen Privatwelten, die sich nur bei körperlicher Nähe verkoppeln. Und wäre es nicht absurd, in einer Blase zu wüten?

Bleibt die Erkundung – und unermüdliche sprachliche Einkreisung – der physischen Bedingungen dieser Existenz: etwa die Entdeckung, dass die Welt ein gedeckter Tisch ist, auf dem der Espresso auch nach Jahren so heiß ist, wie er um 12:47 Uhr serviert wurde, und erst abzukühlen beginnt, wenn man ihn mit der eigenen Zeit sozusagen infiziert. Bleibt das heimliche Vergnügen des sexuellen Missbrauchs regloser Körper, der Drang und die Angst, Spuren zu hinterlassen für den Fall, dass die Zeit für den Rest der Menschheit je wieder anspringen sollte. Bleibt der endlose innere Monolog der chronifizierten Existenz, in den Lehr in extremer narrativer Zeitlupe die wenigen Ereignisse einfräst, sodass schließlich– und das ist seine große Leistung – fünf Jahre „Unzeit“ beim Lesen wirken wie eine endlos gedehnte Sekunde, deren Wände immer weiter nach außen verschoben werden – bis hin zur finalen Pointe.

Thomas Lehr: „42“. Aufbau Verlag, Berlin 2005, 368 Seiten, 22,90 Euro