Der Getriebene

Der Insider, der zugleich ein Außenseiter war: Kurz nach dem Tod von Peter Glotz erscheint seine Autobiografie. Erinnerungen eines Intellektuellen, Paradiesvogels und SPD-Vordenkers

Ein Getriebener war er sein Leben lang. Wenn sich andere Morgens um sieben verschlafen ins Badezimmer schleppten, hatte Peter Glotz schon einen Artikel oder ein Buchkapitel auf Tonband diktiert und ein Telefoninterview für das Frühstücksradio gegeben. Er sprach nicht einfach – er ratterte Sätze, Thesen, Provokationen in einem Affentempo herab. Kurzum: Er war einer, der notorisch den Eindruck erweckte, als kämpfe er gegen die Zeit.

Jetzt, zwei Monate nach seinem Tod, liegen auch die letzten, die nachgelassenen Schriften des Mannes vor, den man einst den Vordenker der deutschen Sozialdemokratie nannte. Seine Autobiografie „Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers“ brachte er gerade noch fertig, sein letzter Text, den er für das Monatsmagazin Cicero schrieb, bricht einfach am Ende ab. „Ich war ein Fechtmeister und ein Sänger, aber kein Fähnleinführer“, heißt es in dem bewegenden Stück. Und: „Den Tod eines 66-Jährigen kann man nicht ‚tragisch‘ finden, weil er statt 22 nur 21 Bücher schreiben konnte.“ Das „eifrige, zärtliche Leben“ seines gerade achtjährigen Sohnes hätte er gern noch ein paar Jahre mitverfolgt – was für die deutsche Politik nicht gelte. Die sei „zu einem rabulistischen Exerzierreglement“ geworden, so „lieblos polemisch, wie man sich die rumänische Publizistik langweilig vorstellt“.

Der Artikel berührt natürlich, weil da jemand schrieb, bis er starb, und weil die Worte ausfransen. Ganz anders die Autobiografie. Mit ihr ist Glotz ein letztes, glänzendes Stück gelungen. Natürlich spürt man auch hier, dass der Autor nicht mehr alle Zeit der Welt hatte, dass er sich durch Kapitel und Epochen hetzt. Aber Glotz beschreibt klug, anschaulich und mit der ihm so eigenen selbstironischen Lakonie, nicht nur seinen Weg vom sudetendeutschen Flüchtlingskind zum paradigmatischen intellektuellen Geistesprinzen der deutschen Politik – er schreibt auch eine Kulturgeschichte der vergangenen fünfzig Jahre Bundesrepublik. Vom Pathos des „Neu Beginnens“ der Fünfzigerjahre über den rebellischen Aufbruch der Sechzigerjahre, vom sozialdemokratischen Jahrzehnt der Siebzigerjahre bis zu den ersten rot-grünen Kooperationsversuchen der Achtzigerjahre – Glotz’ Lebenslauf und der Lauf der Zeit liefen parallel. Er war weit oben dabei – Landtagsabgeordneter in Bayern, Senator in Berlin, SPD-Bundesgeschäftsführer unter Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel –, aber immer auch ein Paradiesvogel und Außenseiter. Seiner Beobachtungsgabe war das dienlich: Er hat den Blick, der halb von außen und halb von innen kommt.

Lange hat Glotz Oskar Lafontaine bewundert, sich aber Mitte der Neunzigerjahre mit der SPD der Brandt-Enkel Lafontaine, Gerhard Schröder und Rudolf Scharping etwas auseinander gelebt. Talente wie Glotz konnten die Ich-Typen an der Spitze nicht brauchen. Nicht, dass er ein Konkurrent im Kampf um die Nummer eins gewesen wäre – aber drei, die um die Rudelführung streiten, brauchen keine eigensinnigen Zweiten.

Ihre Sprunghaftigkeit, ihre Wendigkeit, ihre Orientierung auf das eigene Ego ist es denn auch, was Glotz den Enkeln ankreidet. Doch Glotz wäre nicht Glotz, hätte er für die Prinzipienschwäche von Schröder, Lafontaine & Co. nicht eine Theorie. Die SPD hat ihren Jungen, als sich die Enkel auf dem Weg nach oben machten, das Leben in Marxismus-Schrebergärten erlaubt. Bei den Jusos mussten sie, um hoch zu kommen, scharf links klingen – wichtig war nur, dass sie diese Maskerade sofort ablegen, wenn sie in wirkliche Ämter gerieten. Es wurde ihnen, so Glotz, regelrecht angelernt: „Du musst die Pferde reiten, die gerade auf der Weide stehen. Schröder hatte mit dieser Wandlung keinerlei Schwierigkeiten. Aber er hatte eben auch mit späteren Wandlungen keinerlei Schwierigkeiten. Er hatte Wandlungsfähigkeit gelernt.“

Wahrscheinlich war Glotz am Ende ein wenig bitter – doch wie immer zeigt er sich in seinen nachgelassenen Schriften stilsicher genug, dass man ihm das nicht anmerkt. Vergessen wir nicht: Er war in den letzten Jahren auch ein gelegentlich Belächelter, weil er auf allen Jahrmärkten dabei war, zu allem eine Meinung hatte.

Da wurde oft übersehen, was man an solch einem streitlustigen, von Gedanken sprühenden Grenzgänger zwischen Geist und Macht eigentlich hatte. „Von Heimat zu Heimat“ legt der Leser, klappt er es einmal auf, nicht aus der Hand, bevor er auf der letzten Seite angelangt ist. Ist man durch, wird man sentimental: Was für ein Buch, was für eine Figur! ROBERT MISIK

Peter Glotz: „Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers“. Econ- Verlag, Berlin, 2005. 342 Seiten, 24,90 Euro