Die Jungs von Aulnay

Samstagsbesuch in der Vorstadt: Wer sind die Randale-Kids? Warum fackeln sie Autos ab? Was tun die anderen Bürger?

„Die Lehrer? Die haben doch schon gestreikt, wenn wir einem die Autoreifen aufgestochen haben“

AUS AULNAY-SOUS-BOIS DOROTHEA HAHN

„Wenn Sarkozy sich entschuldigt, kehrt hier wieder Ruhe ein“, ist Mamadou sicher, „er ist zu weit gegangen. Er hat uns als ‚Gesindel‘ beschimpft. Seine Polizisten haben Tränengas in eine Moschee geworfen. Und er hat sie zu ihrer Arbeit beglückwünscht. Wäre so was in einer Kirche oder einer Synagoge passiert, wäre anschließend die ganze Regierung zum Beten hingegangen.“ Der junge Mann hat Abitur. Und eine zweijährige Ausbildung zum Informatiker. Aber die einzigen Jobs, die er gelegentlich über eine Zeitarbeitsagentur findet, sind Lagerarbeiten: „Weil ich schwarz bin. Und weil ich aus Aulnay-sous-Bois komme.“

In den Sozialbauten der „Cité Europe“, einem der „heißen“ Quartiere von Aulnay-sous-Bois, leben vor allem Menschen, deren Vorfahren aus Afrika und dem Maghreb stammen. Am Rand der Cité liegt eine zweistöckige Zweigniederlassung von Renault, die in der letzten Woche ausgebrannt ist. Ein paar hundert Meter weiter ein Teppichlager, das in der Nacht zu Samstag brannte. „Das waren die Kleinen – Jungs zwischen 12 und 15 Jahren“, erklärt ein 20-Jähriger aus einer algerischen Familie, „am Anfang war ich stinksauer auf sie. Aber dann habe ich gesehen, dass wir so die Aufmerksamkeit der Politiker auf uns lenken können.“

Aulnay-sous-Bois liegt wie viele „heiße“ Vorstädte in einer wirtschaftlichen „Sonderzone“. Zahlreiche Unternehmen haben sich dort niedergelassen. Sie müssen kaum Steuern zahlen. Die Regierung erlässt sie ihnen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Ein junger Mann aus einer marokkanischen Familie mischt sich ein: „Mir ist lieber, die Kleinen fackeln Renault ab anstatt die Autos von Nachbarn in der Cité“, sagt er.

Aulnay-sous-Bois ist nur 15 Autominuten von der Pariser Stadtgrenze entfernt. Mit der S-Bahn dauert es 30 Minuten in die Stadtmitte. Aber an diesem Samstag funktioniert die S-Bahn nicht. Bei der Randale in der Vornacht sind einzelne Schienenabschnitte zu Bruch gegangen. In Paris fühlen sich die jungen Männer, die als Franzosen zur Welt gekommen sind, wie „Ausländer“.

„Man erkennt uns am Autokennzeichen, auf dem die Nummer unseres Départements steht: 93. Und an unserem Vorstadtdialekt“, erklärt ein Junge, der behauptet, er würde sofort nach Marokko ziehen, wenn es dort Arbeit gäbe. Er hat mit 15 die Schule verlassen. Hat die Schule gehasst. Und auch die Lehrer: „Die sind schon in den Streik getreten, wenn wir bloß einem von ihnen die Autoreifen aufgestochen haben.“ Jetzt ist er 20, bereut, dass er kein einziges Zeugnis „außer dem Führerschein“ hat. Wohnt bei der Mutter, steht mittags um zwei auf, lungert sich in den Alleen der Cité Europe durch den Tag und antwortet auf die Frage, was er mit seinem Leben machen will: „Ich habe keine Zukunft.“ Alle paar Tage wird er von Polizisten kontrolliert. „Die Bullen keinen meinen Vornamen, aber die wollen trotzdem jedes Mal meine Papiere sehen. Manche nennen mich ‚dreckiger Araber‘. Oft machen sie Leibesvisitationen. Manchmal sogar vor meiner Mutter. Das ist erniedrigend“, klagt der junge Mann. Wovon er lebt, will er nicht verraten: „Man darf nie zu viel sagen.“ Er trägt einen modischen Streetware-Anzug. Als er in seinem schwarzen Auto mit quietschenden Reifen abfährt, sagt ein Junge, mit dem er zuvor gescherzt hat: „ein Dealer“.

An diesem Samstagvormittag sind mehr als 1.500 Menschen durch Aulnay-sous-Bois gezogen, wo der Gestank von verbranntem Plastik bis in die Innenstadt weht. An der Spitze der Demonstration „gegen Gewalt und für Dialog“ ziehen der konservative Bürgermeister und mehrere gewählte Politiker aller Parteien – auch der Linken. Viele der Gewählten tragen ihre Amtsschärpen in den Farben der Trikolore. Hinter ihnen ziehen Menschen aller Hautfarben durch den Ort und zu jedem einzelnen der ausgebrannten Unternehmen. Auch Jugendliche aus dem Ort sind unter ihnen. James, der als Pizzaverkäufer arbeitet, fand die Demo „eine sehr gute Sache“. Der 26-Jährige ist in Paris geboren. Dann zog seine Familie in die Vorstadt um: „weil Araber nicht nach Paris gehören“. Heute wohnt er mit Freundin in einer Vorstadt zusammen. Was muss passieren, um die Lage zu beruhigen? „Die Politiker müssen zu uns kommen und reden. Bislang haben sie uns nur beschimpft. Und Bullen geschickt. Niemand hat uns gefragt, was wir brauchen.“

Eine junge Frau kommt zum Jugendtreff in der Cité Europe. Sie ist die einzige Frau in dem Treffpunkt. „Mädchen gehören nicht auf die Straße“, erklärt einer der Jungen. Er sorgt dafür, dass auch seine Schwestern ab Einbruch der Dunkelheit zu Hause bleiben. Die Jungs begrüßen die junge Frau mit Küsschen und Schulterklopfen. „Sie arbeitet bei den Bullen“, sagt Karim strahlend, „aber sie ist o. k.“ Die junge Frau ist tatsächlich bei der Polizei. In Paris. Aber sie stammt aus der Cité Europe. Wohnt auch dort. Und stammt aus einer Einwandererfamilie. „Hier wird sehr viel falsch gemacht“, sagt sie, „der Staat hat sich zurückgezogen. Nur die Polizei ist noch da. Die spricht nicht mit den Jugendlichen.“

Auf der anderen Seite der ausgebrannten Renault-Niederlassung defilieren Anwohner aus anderen Quartieren von Aulnay-sous-Bois vorbei. Viele haben Fotoapparate mitgebracht. Ein Mann sucht mit dem Fernrohr nach Resten seines Renault: „Ich habe ihn letzte Woche zur Reparatur gebracht. Jetzt liegt er irgendwo in den Trümmern und ich komme nicht ran. Aber meine Versicherung verlangt, dass ich den exakten Schaden binnen fünf Tagen melde.“

Viele Samstagsspaziergänger sprechen von „Angst“. Sie wollen wissen, wer die Brände gelegt hat. „Das war das Gesindel“, sagt ein alter weißhäutiger Mann, der in einer andere Cité lebt, „deren Eltern tun nichts, um auf die aufzupassen. Die lassen ihre Kinder noch nach Mitternacht auf die Straße. Wenn man denen einmal die Meinung sagt, schlagen sie einem gleich die Autofenster ein.“ Eine schwarze Großmutter, die mit Enkelkind unterwegs ist, nickt. „Sarkozy hat Recht“, sagt die alte Frau, die bei den letzten Wahlen sozialistisch gewählt hat. „Meine Kinder sind auch arbeitslos, aber ich sorge dafür, dass sie die Gesetze respektieren“, schimpft eine Frau, die vor 35 Jahren aus Jugoslawien nach Frankreich eingewandert ist.

Ein alter Tunesier, der in den städtischen Anlagen arbeitet, lehnt stumm über dem Geländer vor der Renault-Niederlassung. Er ist gekommen, um „nachzudenken.“ Als Jugendlicher in Frankreich, so erzählt er, war er eine „Schwarzweste“: „Natürlich sind wir auch in Banden aufgetreten und natürlich haben wir Dummheiten gemacht. Aber die Polizei ist nicht mit Knüppeln auf uns zugekommen. Die haben mit uns geredet.“