Yue-Sais große, kleine Welt

Über Yue-Sais Sofa hängt der Nachdruck einer chinesischen Briefmarke mit ihrem Bildnis„Ich nenne mich eine chinesische Patriotin. Ich habe ein Fernsehgerät von einer chinesischen Firma“

AUS SCHANGHAI GEORG BLUME

Diesen Samstag war sie mit der französischen Schauspielerin Catherine Deneuve in Paris unterwegs, nächsten Samstag zieht sie mit Supermodel Naomi Campbell durch Südlondon. Immer um halb zehn abends, zur besten Sendezeit auf „Channel Young“, Schanghais neuem TV-Lifestyle-Kanal. In ihrer Show besucht sie die Großen der Welt an ihren Herkunfts- und Wirkungsstätten. Sie ist für die Deneuves und Campbells Gast und Gastgeberin zugleich. Sie schafft es, wo immer sie mit ihren Partnern vor der Kamera parliert, ihre eigene chinesische Showatmosphäre, ein gewisses heimisches Flair zu verbreiten. Als säße die französische Filmdiva nicht in ihrem eigenen, sondern in einem Schanghaier Wohnzimmer an der Pekingstraße. Als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass Naomi Campbells Urgroßvater – ja was wohl? – ein Chinese war.

Willkommen in „Yue-Sais Welt“. In ihr können bald jeden Samstag 750 Millionen Chinesen leben – so viele Menschen erreicht die neue Fernsehshow ab Januar, wenn sie nicht nur in Schanghai, sondern auf vierzig Kanälen zwischen Mandschurei und Perlfluss läuft.

Ihre Erfinderin und Produzentin ist Yue-Sai Kan. Sie ist wohl über fünfzig Jahre alt. Ihre Haare sind kurz. Sie trägt eine lockere, weiße Bluse mit Reißverschluss und enge Hosen in Türkis. „Ich komme gerade von einem Dinner bei chinesischen Freunden“, grüßt Yue-Sai Kan an einem Dienstagabend um halb zehn. Und fügt lächelnd hinzu: „Ich würde mich für ein chinesisches Dinner nie richtig in Schale werfen.“ Da ist es, das Lächeln, das heute so viele Chinesen verführt wie früher die Rhetorik Mao Tsetungs.

Sie will mit Yue-Sai angeredet werden. Das ist ihr Vorname. Ihren Familiennamen stellt sie nach westlicher Art nach. Sie sagt, alle Chinesen würden sie so nennen. Die Betonung liegt auf alle. Alle sind 1,3 Milliarden. Sie ist eine chinesische Ikone, als Frau in China so bekannt wie vor ihr nur die berüchtigte Kaiserin Cixi und die verwegene Witwe Maos. „Man nennt sie die berühmteste Frau Chinas, die Königin des Reichs der Mitte“, schreibt das US-Magazin WomensBiz über sie. Zum Beweis hängt an der Wand über ihrem hellen Wohnzimmersofa der vergrößerte Nachdruck einer chinesischen Briefmarke mit ihrem Bildnis. Keine KP-Führer-Briefmarke, sondern eine Yue-Sai-Briefmarke. Die gab es wirklich. Undenkbar, aber wahr.

Auch ohne Kameras lebt sie in Yue-Sais Welt, in ihrer Privatwohnung im 16. Stock des Luxuswohnbaus „The House“ an der Schanghaier Pekingstraße. Wer alles schon bei ihr war? Ex-Spice-Girl Victoria Beckham, Hollywoodstar Ralph Fiennes, Naomi Campbell. Wen sie an diesem Abend beim Dinner traf? Die chinesischen Chefs einer Bank, einer Versicherungsfirma und eines Krankenhauses. „Man muss bei einer Dinnerparty vorsichtig sein“, rät Yue-Sai. „Man kann die Englisch und Chinesisch sprechenden Leute nicht mischen. Sie verstehen sich nicht.“ Aber alle verstehen Yue-Sai. Darin liegt ihr Geheimnis.

Ihr Wohnungsdekor verrät ein bisschen davon. Im Esssalon eine schwere runde Holztafel bedeckt mit einer Glasplatte, leicht abwischbar. Hier speist und schwatzt es sich am besten laut und chinesisch. Im Wohnzimmer mehrere Konversationsecken mit westlichen Sofas – für das in chinesischen Kreisen noch ungewohnte leise Salongespräch. Der chinesische Bankchef nähme bei Yue-Sai an der Holztafel Platz, Ralph Fiennes saß auf dem Sofa und tanzte auf dem Balkon. Yue-Sai kann sich auf jeden Gast einstellen. Ihre Lebensleistung ist, sich in ihren TV-Shows auf alle, auch die einfachsten Chinesen eingestellt zu haben. Was der Chinese heute vom Westen weiß, weiß er von Yue-Sai. Warum? Das ist heute chinesische Geschichte.

Yue-Sai ist Showmasterin, Bestsellerautorin und Unternehmerin. Sie wurde in Schanghai als Tochter eines angesehenen Malers geboren, ging in Hongkong zur Schule, studierte in New York. Dort nahm sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Sie arbeitete sich in der New Yorker Szene hoch, bekam ihre eigene amerikanische Fernsehshow, mit der sie den Amerikanern erklärte, was chinesische Kultur ist. Seidenstoffe, Kalligraphie, Ming-Möbel.

Das sahen die Medienscouts der chinesischen Kommunisten, die sich Anfang der Achtzigerjahre fragten, welche Art Fernsehen ihrer Partei in Zukunft dienen könnte. Yue-Sai wurde nach Schanghai eingeladen. Sie erhielt den Auftrag, eine Show zu entwerfen, die umgekehrt den Chinesen erklären sollte, was westliche Kultur ist. Sie nahm an, gründete ihre eigene Produktionsfirma – und produzierte die neue Show vollständig in den USA. Die Chinesen staunten. Yue-Sai bot ihnen professionelles, nach westlichen Standards gemachtes Fernsehen. Sie zeigte den Chinesen New York und Hollywood, sie erklärte ihnen den Eiffel-Turm und die Berliner Mauer. Yue-Sai löste Deng Xiaopings Versprechen ein: Chinas Öffnung zur Welt. Sie wählte für ihre Showserie den programmatischen Titel „Eine Welt“ und erreichte 300 Millionen Fernsehzuschauer. Sie war die erste Frau in China, die ihre eigene Show hatte, die Begründerin der modernen chinesischen Fernsehnation. „Ich war für alle sichtbar: eine Ausländerin im Fernsehen in einer Zeit, in der es noch gar kein richtiges Fernsehen gab“, sagt Yue-Sai über ihre Rolle in den Achtzigerjahren.

In den Neunzigerjahren sattelte Yue-Sai um, baute ein neues Unternehmen auf: Chinas erste Kosmetikfirma. Plötzlich gab es in China Make-up zu kaufen. Ihr Vorname Yue-Sai wurde zum bekannten Markennamen. „Ich brachte den chinesischen Frauen wieder bei, was es heißt, schön zu sein“, erinnert sie sich. Verächtlich spricht sie über die schminkefreie Zeit, als Schönheitspflege für chinesische Frauen unter Mao Tsetung verpönt und praktisch verboten war.

Voller Lob ist Yue-Sai dagegen für Deng Xiaoping und die Stadtväter des neues Schanghais. „Die Leute hatten damals Weitsicht und den Mut zu großen Taten“, sagt Yue-Sai. Und ein wenig glaubt sie das auch von sich. Sie erzählt von ihren Bestsellern, in denen sie westliche Tischsitten und Konversationsführung beschreibt. Was Westlern dem Vorwurf der Arroganz aussetzen würde, macht sie zu ihrem Anspruch: Sie will den Chinesen beibringen, wie man sich richtig benimmt. Bescheidenheit ist nicht ihre Sache. Altwerden auch nicht. „Ich fange jetzt erst richtig an“, sagt sie über ihre neue Show. Yue-Sai führt auf ihren Balkon, der so groß wie das Wohnzimmer ist. Sie zeigt auf das nahe Portman-Hotel, den Modetempel Plaza 66 und die endlose Hochhaus-Skyline am Horizont. Es ist kurz vor Mitternacht. Schanghai, Chinas pulsierende 15-Millionen-Metropole, das neu errichtete Paris des Ostens, ist hell erleuchtet. Sie will jetzt über die Gegenwart reden.

Das Leben in Schanghai sei wie das in einer Grenzstadt bei der Eroberung des Wilden Westens, sagt sie. Jeden Tag geschehe etwas Neues. In dieser Phase sei die ganze Gesellschaft korrupt. Jeder übertreibe um 50 Prozent. Jeder schmiere jeden an. „Selbst die Talentierten glauben, die Wahrheit übertreiben zu müssen“, meint sie. Noch fehle den Chinesen ein konstant hohes Niveau an gutem Geschmack. Doch lasse sie sich deshalb nicht den Spaß verderben. Die Leute treibe ein überall spürbarer Entdeckungsgeist. Jeden Tag werde an der Börse eine neue Aktiengesellschaft gegründet. Schanghai sei heute eine Stadt, in der man die guten Dinge nutzen und die schlechten Dinge übersehen könne. „Verstehen Sie, warum es jeden in diese Wunderstadt zieht?“, fragt Yue-Sai lächelnd.

Die Unternehmerin hat ihr Apartment vor einem Jahr gekauft. Damit entschied sie sich für Schanghai als festen Wohnsitz neben New York, wo sie ihre Wohnung am Sutton Square ganz traditionell chinesisch eingerichtet hat – „viel chinesischer als hier in Schanghai“, sagt Yue-Sai. Sie liebe das Hin und Her zwischen Schanghai und New York. Sie lebe auf einer Brücke, alles sei vermischt, nichts mehr voneinander zu trennen. „Ich nenne mich eine chinesische Patriotin. Ich habe ein Fernsehgerät von der chinesischen Firma Haier“, erwähnt sie. Doch verkenne sie nicht, dass der Westen für China auch heute noch in jeder Hinsicht Modell sei. Das gelte nicht zuletzt für Geschäftsleute und Neureiche in China. „Sie versuchen, international zu wirken, und denken nur ans Geld“, stellt sie nüchtern fest.

Auch ihnen ist ihre neue Show gewidmet. Yue-Sai will darin vor allem auch die moralische Seite des Westens zeigen. Sie lässt eine Französin in ihrer Show sagen, dass Catherine Deneuve kein Recht habe, sich einer Schönheitsoperation zu unterziehen. Warum viele das im Westen grundsätzlich nicht machen, erklärt Yue-Sai am Beispiel Deneuves. Am letzten Novembersamstag widmet sie ihre Show den Verhüllungskünstlern Christo und Jeanne-Claude, dokumentiert ihren einfachen Lebensstil in New York. „Sie leben wirklich nicht für Geld und Diamanten, sondern für ihre Kunst“, lässt sie ihr Fernsehpublikum wissen.

Sie führt zurück vom Balkon durch ihr extravagantes Schlafzimmer, über den grün lackierten Nachttischen hängen traditionelle Tuschezeichnungen ihres Vaters. Sie träumt davon, seine Kunst wieder populär zu machen. Doch zuvor müsse sie die Produktion eines in China spielenden Hollywoodfilms betreuen. Zwischen Ost und West sind ihr keine Grenzen gesetzt. Yue-Sai kostet es voll aus.