Schule im Aufbruch

Derzeit laufen die Anmeldungen der Erstklässler für das kommende Schuljahr. Die Turbulenzen im Zuge der Grundschulreform erschweren die Entscheidung der Eltern, in welche Schule ihr Kind soll

VON ALKE WIERTH

Dass ihre Tochter Maria nicht zu der Grundschule gehen soll, in deren Einzugsgebiet in Kreuzberg sie wohnen, stand für Marias Mutter Sofi fest. 90 Prozent der Kinder dort haben Deutsch nicht als erste Sprache gelernt: das ist zu viel, meint Sofi. Sie ist eine der Mütter und Väter von ungefähr 27.000 Kindern, die jetzt für das kommende erste Schuljahr an einer Grundschule angemeldet werden müssen.

Ein Drittel davon stammt aus zugewanderten Familien. „70 zu 30, das war unsere Grenze“, sagt Sofi. Sie ist selbst halbe Südosteuropäerin, der Vater ihrer Tochter kommt aus Afrika. Ein überzeugendes Schulkonzept, engagierte Lehrer und ErzieherInnen, gute Räumlichkeiten und Ganztagsbetreuung – das waren neben der Schülermischung ihre Hauptkriterien bei der Suche nach der richtigen Schule.

Das Angebot an Schulen ist äußerst vielfältig

Auf Informationstagen der Schulen, durch Unterrichtsbesuche und im Internet hat sie sich schlau gemacht und die Schule ihrer Wahl gefunden. Das war keine leichte Entscheidung. Denn das Angebot ist äußerst vielfältig.

450 Grundschulen gibt es in Berlin. 64 davon sind seit der Grundschulreform im letzten Jahr so genannte gebundene Ganztagsgrundschulen. Dort ist Anwesenheit bis 16 Uhr Pflicht, denn laut Schulgesetz sollen diese Schulen zukünftig Unterrichts- und Freizeitphasen in den Nachmittag hinein vermischen. Die übrigen Grundschulen bieten bis auf drei einen offenen Ganztagsbetrieb mit Unterricht am Vor- und Hortbetreuung am Nachmittag.

Während die gebundenen Ganztagsgrundschulen nichts kosten, muss für die Nachmittagsbetreuung im offenen Ganztagsbetrieb einkommensabhängig gezahlt werden. Betreuungszeiten und -kosten sind aber nicht das einzige Auswahlkriterium für Eltern: Es gibt Grundschulen mit besonderen pädagogischen Konzepten wie Montessori- oder Integrationsklassen, mit inhaltlichen Schwerpunkten wie Sport oder Ökologie oder mit speziellen Sprachangeboten. Die staatlichen Europaschulen unterrichten zweisprachig.

Überdies wächst das Angebot an Privatschulen: von der elitären Privaten Kant-Schule über die kunstbetonte Klax-Grundschule bis zur Islamischen Grundschule reicht die Palette.

Zudem sind viele Eltern noch durch die Aufregung verunsichert, welche die seit Beginn des laufenden Schuljahres wirksame Grundschulreform ausgelöst hatte. Einschulung ab fünf Jahren, Abschaffung der Vorschulen, Zusammenlegung der 1. und 2. Klassen zu jahrgangsübergreifenden Lerngruppen, Auflösung der Schülerläden und Horte durch die Verlegung der Nachmittagsbetreuung an die Schulen: diese Neuerungen hatten zu Beginn des Schuljahres 2004/2005 für Chaos an Schulen und Unmut unter den Eltern gesorgt.

Fehlende pädagogische Konzepte für die neuen Ganztagsschulen, mangelnde Räume für die Nachmittagsbetreuung – diese Probleme seien nicht innerhalb eines Jahres zu lösen gewesen, sagt Inge Hirschmann, Vorsitzende des Berliner Grundschulverbandes und Rektorin der Heinrich-Zille-Grundschule in Kreuzberg: „Ich vertraue darauf, dass da in den nächsten fünf Jahren was gelöst wird. Aber die Eltern, die jetzt ihre Kinder einschulen, die wollen nicht fünf Jahre warten. Die fragen: Was machen Sie im nächsten Jahr mit meinem Kind?‘“

Die Heinrich-Zille-Schule von Rektorin Hirschmann hatte auch Sofi für ihre Tochter Maria erwogen. Entschieden hat sich die berufstätige Mutter dann aber für die benachbarte Hunsrück-Grundschule, „weil das eine Ganztagsschule ist“. Dafür musste sie sich und ihre Tochter an einem anderen Wohnort anmelden. So oder indem man sich an einer Schule mit besonderer Ausrichtung bewirbt, kann die Anmeldepflicht für die Grundschule des wohnortabhängigen Einzugsbereiches umgangen werden. Immer mehr Eltern nutzen diese Möglichkeit, vor allem in Bezirken mit großen sozialen Problemen und hohem Migrantenanteil.

Es seien vor allem die engagierten Eltern, die die Grundschulen für ihre Kinder bewusst auswählen, sagt Inge Hirschmann. Das seien aber keineswegs bloß Deutsche: „Auch Migrantenfamilien aus der Mittelschicht fragen uns längst: ‚Wie viele Ausländer haben Sie?‘“

Mit den Folgen dieser Entwicklung haben viele Schulen in Bezirken, die als problematisch gelten, zu kämpfen: Die bei den engagierten und bildungsbewussten Familien beliebten Schulen ziehen deren Kinder an. Den anderen bleiben diejenigen, die sich nicht kümmern können oder wollen.

Und die Turbulenzen um die Grundschulreform verstärken diesen Trend, denn dadurch aufgerüttelt suchen in diesem Jahr noch mehr Eltern ganz gezielt nach der besten Schule für ihr Kind. Und das heißt nicht selten: nach einer Schule mit möglichst niedrigem Migrantenanteil.

Inge Hirschmann beobachtet den Trend zu einer Entmischung der Schulen mit Sorge. An ihrer Schule liegt der Anteil von Kindern nichtdeutscher Erstsprache mit 50 Prozent weit unter Kreuzberger Durchschnitt. Aber es ändert sich auch dort etwas: „Früher gab es unter den Eltern, die wir hier haben, eine Art stillschweigendes Übereinkommen: Man war auch sozial engagiert und zog so die Bildungsferneren mit.“

Sozial Schwache brauchen die Ganztagsschule

Nun hieße es dagegen öfter: Die müssen sich aber auch mal bemühen. Das an ethnischer Herkunft festzumachen, hält sie aber für verfehlt: „Es geht hier nicht um Migranten oder gar um Muslime. Es geht um die Förderung sozial schwacher Bevölkerungsschichten, die das auch alleine nicht können.“ Gerade die bräuchten die Ganztagsschule: denn die könnte die Bildungs- und Freizeitangebote machen, die in den Familien fehlten. Wenn es denn in Zukunft gelingt, die dafür notwendigen pädagogischen Konzepte, aber auch die Kooperationen mit freien Trägern der Jugendarbeit oder Musikschulen einzugehen.

Die Hunsrück-Grundschule, für die Sofi sich entschieden hat, ist eine der Schulen, die sich darum bemüht: eine Schule im Aufbruch. „Es gibt hier sehr gute Ansätze und Voraussetzungen“, meint Sofi. Sie findet, das müssen man unterstützen: „Es geht doch nicht, dass alle weggehen und nur die hier bleiben, die nicht weggehen können.“ Auch die Mischung stimmt: 70 Prozent Kinder nichtdeutscher und 30 Prozent Kinder deutscher Erstsprache lernen hier. „Ich bin Kreuzbergerin und das ist hier Realität“, sagt Sofi. Den Kiez zu verlassen, ist ihr nie in den Sinn gekommen.