Chirac, ein hilfloser Prophet

1995 sagte der jetzige Präsident Unruhen voraus. Jetzt reagiert er so kläglich auf sie wie Frankreichs ganze Politikerkaste

AUS PARIS RUDOLF BALMER

Frankreich ist konsterniert. Die Krawalle in den Vororten haben vor bald zwei Wochen begonnen, an Gewalt von Tag zu Tag zugenommen und sich von der Pariser Banlieue auf das restliche Land ausgeweitet. Und was tut der Staat? Das ist die erste Frage, die den erschreckten Bürgern in den Sinn kommt.

Innenminister Nicolas Sarkozy hatte seine Polizei für solche Konfrontation auf- und ausgerüstet, die Koordination mit der Gendarmerie verbessert, die Überwachungsmethoden verstärkt. Jetzt, im Ernstfall, wirken seine Leute trotz ihrer martialischen Aufmachung recht hilflos. Gegenüber kleinen Gruppen oder gar Einzelpersonen, die im Schutz der Dunkelheit ihre Wut am kommunalen Mobiliar oder an den Autos eingeschüchterter Nachbarn abreagieren, sind die mehr für reguläre Straßenschlachten ausgebildeten CRS-Bereitschaftspolizisten immer im Verzug.

Da die Polizei ihre Ohnmacht nicht eingestehen darf, verdoppelt sie ihre präventiven Kontrollen. Der Willkür und den rassistischen Entgleisungen sind dabei kaum noch Grenzen gesetzt. Hier sind berufsethische Sicherungen im Verlauf der Unruhen durchgebrannt. Da die Randalierer vermummt auftreten, erfolgen viele Festnahmen per Instinkt, das heißt nach dem Aussehen. Auf dem polizeilichen „Roboterbild“ ist der Randalierer so beschrieben: 12 bis 18 Jahre alt, dunkle Hautfarbe, in Frankreich geboren, Eltern aus Afrika oder Nordafrika eingewandert, Hang zu aggressivem Verhalten gegenüber Staatsvertretern … Die Klischees werden dabei verstärkt und die Feindseligkeit geschürt.

Die Regierung hatte sich nach anfänglichem Zögern auf eine „harte Linie“ geeinigt. Diese dürfte vor allem nach dem gestern bekannt gewordenen Tod eines Mannes, der am Freitag beim Löschen eines brennenden Müllcontainers von einem vermummten Unbekannten zusammengeschlagen worden war, von vielen in der Bevölkerung noch stärker unterstützt werden als bisher. Trotzdem wirkt der Staat politisch schwach. Als Präsident Jacques Chirac am Sonntagabend nach einem für viele unverständlich langen Schweigen das Wort ergriff, wiederholte er nur – fahrig und müde – in kürzerer Form, was zuvor sein Premierminister gesagt hatte.

Ziemlich kritisch kommentiert darum die französische Presse diese Leistung des Präsidenten. Le Progrès in Lyon macht sich gar lustig: „Wer hatte geschrieben: ‚Wenn zu vielen Jugendlichen nur die Arbeitslosigkeit oder kleine Praktika nach ungewissen Studien in Aussicht gestellt werden, werden diese am Ende revoltieren. Noch versucht der Staat die Ordnung aufrechtzuerhalten und mit der sozialen Abfederung der Arbeitslosigkeit das Schlimmste zu verhüten. Falls sich die sozialen Beziehungen aber verhärten, kann die Ordnung aus den Fugen geraten.‘ Wer das gesagt hat? Jacques Chirac 1995 in seinem Buch ‚La France pour tous‘. Diesen Mann hätten wir wählen müssen, bestimmt stünden wir jetzt nicht hier.“ Sogar der sonst sehr regierungstreue Pariser Figaro des Rüstungsindustriellen Dassault ergeht sich in selbstkritischen Betrachtungen: „Frankreich bezahlt heute für seine Arroganz. Vor den Augen der Welt ist sein berühmtes Integrationsmodell am Untergehen. (…) Wir befinden uns nicht in einem Krieg, aber wir büßen für die Ungereimtheiten und Widersprüche (der Vergangenheit). Zu oft nämlich hatte die Demagogie über die Vernunft gesiegt, als es darum ging, die so genannten Banlieue-Probleme zu lösen.“

Was kann die Regierung jetzt tun, um das entstandene Vakuum zu füllen? Mit „konkreten Vorschlägen“ und dem Versprechen, dass die Republik sich nicht von randalierenden Halbwüchsigen in ihren Grundfesten erschüttern lässt, versuchte gestern Abend Premier Dominique de Villepin die Fernsehzuschauer zu trösten. Was er an gezielten Unterstützungsprogrammen in Bereichen wie Erziehung, sozialer Infrastruktur, Berufsperspektiven oder Freizeit der Bevölkerung in der Banlieue, und speziell den Jungen, in Aussicht stellt, kann bestenfalls in zwei, drei Jahren greifen. Die Bilder der brennenden Autos oder Schulen sind im Augenblick viel eindrücklicher.