Das Soli-Barometer fällt

Der Streit um Hartz-IV-Missbrauch beruht auf Unkenntnis und unseriösen Berechnungen – und versetzt Maßstäbe: Das Existenzminimum wird abhängig von Stimmungen

Aus dem Rückgang von „verschämten Armen“ werden gleich die „unverschämten Arbeitslosen“

Wer dieser Tage mit Selbstständigen oder Angestellten redet, was von den angeblich zu hohen Kosten für die Hartz-IV-Reform zu halten sei, gerät schnell in einen Streit über Sozialmissbrauch. Der Gedanke, dass es in Deutschland mehr Menschen gibt als gedacht, die bewusst auf Kosten anderer leben, ist aus vielen privaten Debatten nicht mehr wegzukriegen. Es verschiebt sich etwas im gesellschaftlichen Verständnis von Solidarität – und das könnte am Ende die eigentliche, entscheidende Folge der Hartz-IV-Reform sein.

Ein Hinweis auf das fallende „Solidaritätsbarometer“ ist die ausbleibende Empörung über die geplanten Einsparungen bei den Empfängern des Arbeitslosengeld II. 1,8 Milliarden Euro will die kommende Regierung hier kürzen, darunter 1 Milliarde Euro durch bessere Vermittlung, aber auch durch die schärfere Verfolgung von Missbrauch.

Auch die Tatsache, dass der Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger von 345 Euro im Monat im Westen (im Osten 331 Euro) in den Jahren bis 2009 möglicherweise eingefroren wird, weil er an die Entwicklung des Rentenwerts gekoppelt ist, regt kaum jemanden mehr auf. Bei einer angenommenen Preissteigerungsrate von 2 Prozent im Jahr bedeuten Nullrunden in den nächsten fünf Jahren jedoch einen Kaufkraftverlust von 10 Prozent für die Langzeitarbeitslosen. Und das ist viel.

Die „Missbrauchskampagne“ von Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) hat ihren Teil dazu beigetragen, die Stimmung gegen die Arbeitslosen aufzuheizen. Ein Beispiel dafür ist das Gerücht von den vielen Paaren und Jugendlichen, die angeblich in Einzelhaushalte ziehen, um mehr Geld zu kassieren. Wahr ist: Der Anteil der Singlehaushalte an allen Bedarfsgemeinschaften auf Arbeitslosengeld II lag im Januar bei 55 Prozent und ist seither nicht angestiegen. Zwar kletterte die absolute Zahl der Singlehaushalte leicht in die Höhe, nur war das eben auch bei allen anderen Bedarfsgemeinschaften der Fall, es gibt also keine „Zellteilung“, die auf größere Mitnahmeeffekte hindeuten könnte.

Auch die vermeintlich „explodierenden“ Kosten für die Arbeitslosengeld-II-Empfänger sind in erster Linie die Folge einer höchst unseriösen Rechnung des Wirtschaftsministeriums zu Beginn dieses Jahres. Für 2005 wurden nämlich ursprünglich nur 14,6 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld II eingeplant, um den Bundeshaushalt nicht allzu instabil wirken zu lassen.

Eine solche Rechnung war jedoch damals schon unsittlich. Schließlich kostete die Arbeitslosenhilfe im vergangenen Jahr bereits 18,7 Milliarden Euro. Und hinzugerechnet werden musste noch die Sozialhilfe, die mit 9,8 Milliarden Euro zu Buche schlug. Wenn man diese Werte auf 2005 hoch- und das Wohngeld hinzurechnet, kommt man auf Kosten von fast 34 Milliarden Euro, die nach dem alten System in diesem Jahr angefallen wären.

Demgegenüber geht die Politik jetzt davon aus, dass 2005 durch die Hartz-IV-Reform voraussichtlich 26 Milliarden Euro an Arbeitslosengeld II und dem so genannten Sozialgeld für die Kinder von Erwerbslosen gebraucht werden. Hinzu kommen noch geschätzte 12 Milliarden Euro an Ausgaben für die Unterkunftskosten, macht zusammen 38 Milliarden Euro.

Die vermeintliche „Kostenexplosion“ beträgt also rund zehn Prozent. Aber selbst dieser Unterschied von 4 Milliarden ist teilweise erklärbar aus den Neuerungen in der Bundesagentur für Arbeit. 1-Euro-Jobber beispielsweise bekommen heute das Arbeitslosengeld II plus die Mehraufwandsentschädigung. In früheren Jahren landeten diese Leute oftmals in Fortbildungsmaßnahmen und ABM und wurden daher in einer anderen Statistik gezählt.

Dennoch ist richtig, dass die Zahl der Arbeitslosengeld-II-Empfänger heute erheblich höher liegt als die Zahl der Empfänger von Sozial- und Arbeitslosenhilfe im vergangenen Jahr. Doch die Gründe dieses Anstiegs liegen unter anderem im Gesetz: Heute zählt beispielsweise auch eine 16-jährige Schülerin und Tochter von erwerbslosen Eltern als Arbeitslosengeld-II-Empfängerin.

Unbestritten ist dabei, dass die Bedingungen für den Bezug von Arbeitslosengeld II heute etwas besser sind als die früheren Umstände für den Anspruch auf Sozialhilfe. Das ist schlicht der Tatsache geschuldet, dass mit der Hartz-IV-Reform Arbeitslosen- und Sozialhilfe vereinheitlicht und die Sozialhilfe damit gewissermaßen „angehoben“ wurde.

Bei einem 55-Jährigen, der sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen hat und jetzt Arbeitslosengeld II beantragt, wird beispielsweise im Unterschied zur früheren Sozialhilfe nicht mehr nach dem Einkommen der erwachsenen Kinder gefragt. Gleiches gilt umgekehrt für junge Erwachsene, denn auch hier gibt es nur in bestimmten Fällen einen Unterhaltsrückgriff bei den Eltern. Union und SPD wollen aus diesem Grund bei allen unter 25-Jährigen diesen Rückgriff wieder einführen.

Clements Kampagne hat dazu beigetragen, die Stimmung gegen die Arbeitslosenaufzuheizen

Kleinselbstständige, die in Not geraten, dürften heute auch eher Arbeitslosengeld II beantragen, während sie sich früher schämten, „zum Sozialamt“ zu gehen. Dass es nicht mehr so demütigend ist wie früher, Hilfe zu holen, ist eigentlich eine gute Nachricht. Aus dem Rückgang an „verschämten Armen“ gleich die „unverschämten Arbeitslosen“ zu machen – das ist jedoch bezeichnend für eine Politik, die Rechtfertigungen braucht, um die Probleme in den öffentlichen Haushalten in den Griff zu bekommen.

Dabei ist unbestritten, dass es Missbrauchsfälle gibt – den Bauhandwerker, der Alg II beantragt hat und nun in Schwarzarbeit Wohnungen renoviert; die erwerbslose Köchin, die sich lieber durch Putzen etwas hinzuverdient, als sich um einen Vollzeitjob zu bemühen. Doch diese Jobverweigerer, die in der Tat auf ihre Weise den Ruf des Sozialsystems schädigen, die gab es schon immer. Es existieren keine empirischen Belege dafür, dass deren Anteil an den Leistungsempfängern größer geworden ist.

Dennoch lässt sich heute der Verdacht des „Sozialmissbrauchs“ besonders leicht befeuern. Das liegt an der kalten Logik der sozialen Sicherung. Je schwächer die Wirtschaft läuft, desto mehr steigt die Zahl der Arbeitslosen, desto größer wird die Abgabenlast für die Erwerbstätigen. Wer einen Job hat, leidet dann nicht nur unter den hohen Beiträgen, sondern muss diese auch noch unter immer härteren Bedingungen erwirtschaften. Ressentiments gegen Erwerbslose lassen sich daher paradoxerweise in schwierigen Zeiten leichter schüren als in einer boomenden Wirtschaft.

So könnten sich demnächst die Maßstäbe des Sozialen weiter verschieben: Kommen die Nullrunden für die Arbeitslosengeld-II-Empfänger, beinhaltet die Grundsicherung für Arbeitslose kein Grundrecht auf ein Existenzminimum mehr. Sie ist vielmehr abhängig von der Haushalts- und von der Stimmungslage in der Gesellschaft. Und diese Gefühle lassen sich, wie man gesehen hat, politisch leicht beeinflussen. Beklemmend ist das schon. BARBARA DRIBBUSCH