Das erste Mal im Leben Sicherheit

Seit 25 Jahren leistet Deutschlands älteste Kinderwohngruppe Krisenarbeit. Hier finden misshandelte Kinder Schutz. Doch seit Jahren ist die Arbeit durch die Kürzung von Senatsmitteln gefährdet. Ein Ausweg könnte ehrenamtliche Arbeit der Betreuer sein

VON ANNE MÄRTENS

Dennis* wurde mit einem geschwollenen, blauen Auge direkt von der Schule abgeholt. Seine Lehrerin hatte das Jugendamt eingeschaltet, weil der Neunjährige wiederholt mit schweren Prellungen zum Unterricht kam. Nun wohnt der Neunjährige vorerst in der Kinderwohngruppe. Die Einrichtung ist Teil des Kinderschutz-Zentrums Berlin und das älteste Kinderhaus Deutschlands.

Vor 25 Jahren wurde das erste Kind in der großzügigen und liebevoll eingerichteten Jugendstilvilla im Südwesten Berlins aufgenommen. Seither haben 116 Kinder vorübergehend ein Zuhause in der Kriseneinrichtung gefunden. In ihrem familiären Umfeld wurden Kinder wie Dennis misshandelt, missbraucht oder vernachlässigt. Nun soll hier soll ihre Situation fernab ihres problematischen Umfeldes geklärt werden. Neben Dennis leben zurzeit neun weitere Kinder in der Wohngruppe. In der bezirksübergreifenden stationären Krisenunterbringung werden Kinder im Alter von 2 bis 14 Jahren betreut. 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr.

Thorsten Bloedhorn ist einer von acht Sozialarbeitern und Psychologen, die in der Einrichtung arbeiten. Seit 11 Jahren betreut der 39-Jährige die oft schwer traumatisierten Kinder. „Früher hatten wir nicht nur ganz schwere Fälle“, sagt Bloedhorn. Mit den Kürzungen im Bereich der Jugendhilfe würden die Jugendämter „leichte Fälle“ jedoch gar nicht mehr an die Kriseneinrichtung vermitteln.

Seit 2002 hat das Land die Mittel gekürzt; insgesamt um 8 Prozent auf 170 Euro pro Betreuungstag und Kind. Der Einrichtung fehlt damit jährlich ein Betrag von circa 40.000 Euro. Das entspricht einer vollen Betreuungsstelle. Die Kosten für den Lebensunterhalt der Kinder, für Miete und Verwaltung sind in den vergangenen Jahren allerdings nicht gesunken. Um den laufenden Betrieb der Kriseneinrichtung nicht zu gefährden, überlegen die Betreuer, künftig einen Teil der Betreuungsarbeit ehrenamtlich zu verrichten.

Präventivmaßnahmen können damit jedoch nicht mehr angeboten werden. „Viele Familienprobleme könnte man lösen, bevor sie schwere Folgen für die Kinder haben“, meint Bloedhorn. Dafür müssten jedoch die Jugendämter früher intervenieren.

Frühe Hilfe macht es leichter für die Kinder

Aufgrund der Kürzungen werde aber oftmals die Hilfe hinausgeschoben. Mit einem späteren Eingreifen werde auch eine anschließende Rückführung in die Familie schwieriger, da die Situationen meist bereits eskalierten.

Zwei Drittel der in der Kinderwohngruppe lebenden Kinder werden anschließend in dauerhafte Wohnprojekte eingegliedert. Ob Dennis wieder zu Hause einzieht – das ist ungewiss. Mit den Eltern führte Bloedhorn ein erstes Gespräch. In den kommenden Wochen werden sich die Mitarbeiter vom Kinderschutz-Zentrum weiter intensiv mit der Familie auseinander setzen. Ziel sei es, herauszufinden, ob Dennis’ Eltern dem Jungen ein Leben ohne Gewalt ermöglichen können. Bis dahin bleibt sein Aufenthaltsort geschützt.

Über den Vorfall vor zwei Wochen kann der Neunjährige offen reden. Dabei schildert er die Sachlage ohne Emotionen. „Ich bin hier, weil mir mein Bruder ein blaues Auge gehaun hat“, sagt er und schaut dabei seinen Betreuer Bloedhorn an. Dennis ist trotz seiner Misshandlungen ein aufgewecktes Kind und hat sich schnell in die Wohngruppe eingelebt. Er teilt sich ein Zimmer mit dem gleichaltrigen Robert im ersten Stock der Villa. Das Zimmer ist durch große holzfarbene Kleiderschränke geteilt. Neben Dennis’ Schreibtisch steht ein Bett, über dem eine kleine Nachtlampe brennt. Gestern war er zusammen mit seinem Betreuer Kleidung kaufen. Seine Familie weigert sich seine Anziehsachen auszuhändigen.

Stolz zeigt Dennis auf seine neue Jeanshose. „Ich habe noch mehr Anziehsachen“, sagt Dennis und öffnet seine Schranktür. Dort liegen eine weitere Hose, ein paar Sweatshirts, Unterhosen und Socken – das Notwendigste eben. Dann schließt er seine Schranktür wieder. Er rennt die dunklen Holztreppen hinunter und quer durch die Eingangshalle der Villa in die große, gemütliche Wohnküche.

Gleich gibt es Mittagessen. Der Hauswirtschafter hat das Essen schon vorbereitet. Die Kartoffeln schwimmen geschält in einem großen Topf mit Wasser. In der Pfanne daneben brutzeln Pilze, und in einem anderen Topf kocht das Mischgemüse. Zusammen mit den anderen Kindern deckt Dennis den Tisch. Jedes Kind hat einen kleinen Dienst zu verrichten. Die Größeren helfen den Kleineren.

Die schweren Erlebnisse sind den Kindern nicht auf den ersten Blick anzumerken. Der durchorganisierte Tagesablauf gibt Kindern wie Dennis zum ersten Mal in ihrem Leben Sicherheit.

*Name von der Redaktion geändert