Beatrice, 28, wohnt im Pariser Innenstadt-Quartier Belleville und macht sich Sorgen um ihre besorgten Freunde in Deutschland. PROTOKOLL: MARTIN REICHERT

Ihr Lieben, mir geht es gut! Und nein: Ihr müsst mich nicht aus Paris ausfliegen lassen. Ich habe nun so viele besorgte SMS und Anrufe aus Berlin bekommen, dass ich mir langsam Sorgen um euch mache. Ich habe dann bei Spiegel Online reingeschaut und war ganz erschrocken: In Deutschland hat man offenbar den Eindruck gewonnen, dass ganz Frankreich in Flammen steht. Als ob hier Krieg herrscht! Dabei handelt es um Jugendliche, die in den Vorstädten verrückt spielen – außerdem gehören brennende Autos in den Banlieues hier irgendwie dazu, ich weiß, das hört sich seltsam an. Australien warnt seine Bürger mittlerweile davor, nach Frankreich zu kommen. Als ob australische Touristen sich jemals in die Banlieues verirren würden.

Ehrlich gesagt bekomme ich von den Unruhen auch nicht mehr mit als ihr in Deutschland: Ich kenne die brennenden Autos nur aus dem Fernseher. Heute habe ich in der Bank gehört, dass hier in meinem Viertel die Post gebrannt haben soll, das war schon merkwürdig, gebe ich zu. Die betroffenen Vororte sind ungefähr zehn S-Bahn-Stationen entfernt. Ich selbst wohne in Belleville, das liegt innerhalb der Stadtgrenze, alles ist bunt gemischt hier: Muslime, Juden, Asiaten und einige „Weiße“, unter anderem ich, leben hier miteinander, und das funktioniert sehr gut, daran hat sich auch nichts geändert durch die Krawallnächte: Man merkt gar nichts, es sind zwar weniger Menschen auf der Straße, aber das liegt daran, dass es jetzt doch etwas kälter geworden ist, leider. Belleville ist ein bisschen so wie Berlin-Kreuzberg, ich lebe gerne hier, auch wenn ich es manchmal ein bisschen laut finde. Nachts schreien immer irgendwelche Typen auf der Straße herum, hupen, aber so ist das nun mal in Paris, zumal in einem Viertel, in dem viele sozial Schwache wohnen. Es ist schön hier, ich habe von meinem Fenster aus einen wundervollen Blick auf die Stadt, ich blicke direkt auf den Eiffel-Turm, und rechts oben sehe ich den Montmartre.

Na ja, ihr habt ja Recht: Die Ausrufung des Notstands ist schon beeindruckend, das habe ich so noch nicht erlebt. Aber es ist ja nicht so, dass ganz Frankreich nun zu Hause sitzen bleiben muss. Die Ausgangssperren können begrenzt verhängt werden, an bestimmten Orten, das Ende der Welt ist das nicht. Zumal nur Jugendliche unter 16 Jahren und ohne Begleitung betroffen sind.

Die Situation in den Banlieues ist nicht normal, ganz klar. Diese jungen Menschen leben in einem Umfeld von Arbeitslosigkeit, bereits die der Eltern und ihre eventuell eigene vor Augen. Ich kann ihren Frust gut verstehen, aber nicht ihr Verhalten. Das Schicksal der behinderten Frau aus dem Bus, die den Angreifern noch gesagt hat, dass sie nicht aus eigener Kraft aussteigen kann, falls sie ihren Brandbeschleuniger werfen, das hat mich sehr aufgewühlt. Das ist kriminell, da hört mein Verständnis einfach auf. Und gleichzeitig macht mich das verrückt, weil ich mich jetzt anhöre wie Sarkozy. Aber es gibt, glaube ich, tatsächlich viele Trittbrettfahrer, die einfach nur zerstören wollen: Wenn sie Polizeireviere angreifen würden, könnte man das eventuell verstehen. Aber sie machen Schulen kaputt, Kindergärten, die Busse, mit denen andere zur Arbeit fahren wollen. Und über das Wochenende war ich in Grenoble bei meiner Familie, die sehen das eigentlich genauso. Auch bei gut meinenden Bürgern ist die Geduld allmählich überstrapaziert, die Jugendlichen in den Banlieues sind doch nicht die Einzigen im Land, die arbeitslos sind. Das ist in Frankreich ein allgemeines Problem, so wie in Deutschland auch. Gewalt ist nie eine Lösung.

Sarkozy als Politiker macht mir persönlich Angst, sein Vokabular geht nun gar nicht: von wegen „nettoyer au Carcher“. Er spricht von Racaille, Gesindel, das ist ein schlimmes Wort, viel schlimmer als „Gesindel“ im Deutschen. „Eradiquer la racaille“, ausradieren, das sagt man, wenn man Ratten bekämpft. Will er den Menschen auf der Straße nach dem Mund reden, den rechten Rand einbinden? Ich habe gehört, dass es in einem Viertel, in dem es 1995 schon einmal starke Unruhen gegeben hat, danach entsprechende Reaktionen gab: Bei den Wahlen hatte die rechtsextremistische Partei, die Front National, 25 Prozent der Stimmen.

Ich habe nicht wirklich eine Ahnung, wie man das ganze Problem lösen könnte. Angeblich will nun das Arbeitsamt sämtliche Jugendliche vorladen. Und dann? Und warum haben sie das nicht schon vorher getan? Was ich am meisten fürchte, ist eine politische Radikalisierung: All die Menschen in den Banlieues, die jetzt nicht mehr mit ihrem Auto zur Arbeit fahren können, weil es verbrannt ist: Was werden die nächstes Mal wählen? Le Pen?

Das wäre so schrecklich, wenn diese Partei verstärkt ihren Hass säen würde. Natürlich gibt es schon mal Probleme im Zusammenleben mit Menschen anderer Herkunft, Irritationen: Ein Freund mokierte sich neulich darüber, dass es in Belleville sehr viele Männer in Kleidern gibt, die es nicht leiden können, wenn Frauen Hosen tragen. Deshalb herrscht hier aber keineswegs ein Kampf der Kulturen. Die Jungs aus der Nachbarschaft stehen im Flur, rauchen ihre Joints und wünschen freundlich „Bonsoir Madame“. Neulich sagte einer zu mir: „Das können Sie nicht machen, hier so an uns vorbeilaufen, es ist Ramadan, und wir dürfen doch nicht“ – es ist halt so, dass diese Männer weniger zurückhaltend sind, aber eine derbe Anmache kannst du genauso von „weißen“ Franzosen haben.

So, und nun beruhigt euch mal wieder. Ich glaube, ihr habt einfach Angst, dass es bei euch ähnliche Unruhen geben könnte, kann das sein? Ich kenne euch doch, immer den Teufel an die Wand malen.