Die Gier nach einem Leben ohne totalitäre Zwänge

Späte Korrektur eines eingeengten Blicks: Niko von Glasows Film „Edelweißpiraten“ erzählt von Kölner Jugendlichen, die gegen die Nazis kämpften

Die Kölner Edelweißpiraten galten lange als pubertäre Hooligans, die sich eine Privatfehde mit den Nazis lieferten. Richtige Widerstandskämpfer mussten einen moralisch einwandfreien Charakter haben – im Westen waren sie protestantische Gewissensmenschen wie Sophie Scholl, in der DDR kommunistische Überzeutungstäter. Für Jugenddissidenz war in diesem Bild kein Platz. Das jugendlich Proletarische galt als unseriös, das Motiv Lebenslust als anrüchig. Mag sein, dass bei der Geringschätzung des spontanen Widerstands dieser Bewegung auch die Affekte gegen die nonkonformistischen Jugendbewegungen der 50er- und 60er-Jahre eine Rolle spielten.

Der Film „Edelweißpiraten“ (Regie: Niko von Glasow) korrigiert diesen enggeführten Blick. Er zeigt den Widerstand von unten, roh, spontan, kaum organisiert. In den Film führt die Off-Stimme von Jean Jülich, 76 Jahre alt und damals Mitglied der Edelweißpiraten. Die Hauptfigur Karl (Iwan Stebunov) ist sein Alter Ego. So wird der semidokumentarische Grundton von „Edelweißpiraten“ angestimmt. Manche Figuren sind halb erfunden. Das meiste, zum Beispiel die öffentliche Hinrichtung von 13 Edelweißpiraten im November 1944, ist verbürgt.

Karl hört lieber Swing als Nazilieder und prügelt sich mit der Hitlerjugend. In den 50er-Jahren könnte man sich ihn auch als Halbstarken mit James-Dean-Frisur vorstellen. Und zu Beginn mag man die Schlägereien mit der Hitlerjugend eher mit der „West Side Story“ als mit antifaschistischem Kampf assoziieren. Das ist die Stärke dieses Films. Glasow zeigt seine Helden ohne moralische Veredelungen und ohne sie den gängigen Bildern von Widerstandskämpfern anzuverwandeln. Sie sind angetrieben von einer unbändigen Gier nach Leben – ohne totalitäre Zwänge.

Karl rettet den KZ-Häftling Hans (Bela B. Felsenheimer), der sich in Cilly (Anna Thalbach), die Frau seines im Osten gefallenen Bruders, verliebt – und ihn verdrängt. Diese Eifersuchtsgeschichte, inklusive Prügelei, ist ein dramaturgisches Zentrum. Daneben rückt der Konflikt zwischen Karl und dem jüngeren Bruder in den Fokus, der sich (in einer überaus holprigen Inszenierung) vom gläubigen Hitlerjungen in einen militanten Nazigegner verwandelt.

All dies spielt in einer Art Todeslandschaft, in einer Trümmerwüste, die Bilder sind dunkel, die Farben ausgewaschen. Köln 1944 ist eine zerstörte Stadt, das Sterben in den Bombennächten scheint allgegenwärtig zu sein. Der Film arbeitet mit harten Schnitten, viel Sepiafarben und plakativen Konflikten. Manche Dialoge wirken hölzern, manche Metaphern überdeutlich. Die Metamorphose von Karls kleinen Bruder zum todesmutigen Antifa-Kämpfer symbolisieren ein Teddy und eine Pistole, die auf einem Tisch liegen. Die Gestapo-Schergen sind brutale Schlächter, feige Opportunisten, miese Schurken. Als die Edelweißpiraten versuchen, Cilly aus der Hand der Gestapo zu befreien, erinnert das an ein B-Movie: Es gibt viel Action und wenig Raum für Zwischentöne. Aber auf ihre Art passt diese Ästhetik, rau und direkt, zum Stoff.

„Edelweißpiraten“ führt plausibel vor Augen, wie in totalitären Verhältnissen aus spielerischem Widerstand blutiger Ernst wird. Vom Jungsstreich zum (historisch verbürgten) Attentat auf den örtlichen NSDAP-Ortsgruppenleiter ist es ein kleiner Schritt. Die Folter im Gestapokeller und die Hinrichtung inszeniert Glasow ohne Umschweife. Keine Assoziationen an christliche Bildersprache wie in Marc Rothemunds „Sophie Scholl“, keine vage Hoffnung auf ein Jenseits oder ein Opfer, das Sinn stiften könnte.

Am Ende sieht Karl mit ausgemergeltem, unbewegtem Antlitz, wie die US-Armee Köln befreit und die Gestapo-Folterer verhaftet. „Ich fühlte nichts“, sagt Jean Jülich aus dem Off. Den Terror überlebt zu haben, das macht nicht stark, nicht moralisch gefestigt, nur leer. STEFAN REINECKE

„Edelweißpiraten“. Regie: Niko von Glasow. Mit Anna Thalbach, Bela B. Felsenheimer. Deutschland/Niederlande/Schweiz/Luxemburg 2002, 95 Min.