Der Kampf um die Lindenstraße

Am Vorabend des Volkstrauertags droht Halbe der größte Nazi-Aufmarsch in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Einwohner des kleinen brandenburgischen Dorfs fürchten das Spektakel. Ein Aktionsbündnis gegen rechts wehrt sich

Die Antifas kommen nicht nach Halbe. Sie demonstrieren etwas weiter weg

VON FELIX LEE

Feld III, Reihe 2, Platte 37. Darauf steht: „151 unbekannte Kriegstote, gefallen im April 1945“. Jemand muss erst vor kurzem ein Schwarz-Weiß-Bild von einem jungen Mann in Wehrmachtsuniform säuberlich mit Klebeband an der blank geputzten Keramikplatte befestigt haben. Keine 20 Jahre alt ist der abgebildete Soldat. „Ob er wirklich da liegt, kann jedoch niemand genau sagen“, sagt Hella Siegbert. „Vielleicht liegen in diesem Grab ja auch nur Russen.“

Ein Spaziergang über den Soldatenfriedhof im brandenburgischen Halbe, 30 Kilometer südöstlich von Berlin: Die 69-Jährige kennt das Waldgelände auswendig. Bis zu ihrer Pensionierung war sie Geschichtslehrerin im nahe gelegenen Städtchen Baruth. Regelmäßig hatte sie ihre Schulklassen zum Friedhof geführt. Dann erzählte sie von den 40.000 deutschen Soldaten und Rotarmisten, die bei der Kesselschlacht von Halbe kurz vor Kriegsende im April 1945 ihr Leben ließen. Sie berichtete von Pfarrer Ernst Teichmann, der sich Anfang der 50er-Jahre dafür einsetzte, dass zumindest 28.000 der Gefallenen auf diesem Gelände bestattet wurden, von denen aber nur 3.000 überhaupt identifiziert werden konnten. 1983 verstarb er. Nun führt sie den alten Schulfreund ihres Ehemanns über den größten Soldatenfriedhof Deutschlands. Nur vom Nazi-Aufmarsch am Samstag – davon wusste sie noch nichts.

Es ist gespenstisch, was sich an diesem Samstag abspielen wird. Mit bis zu 3.000 Neonazis, die am Vorabend des Volkstrauertags zum Soldatenfriedhof marschieren, rechnet die Polizei – mit so vielen wie noch nie.

Michael Schnieke hat sie gesehen: zwei Männer, wie sie in ihr Auto gestiegen sind und eilig davonbrausten. Schnieke ist stellvertretender Bürgermeister von Halbe und führt ein kleines Reisebüro am Ortseingang. Er konnte gerade so noch das Leipziger Kennzeichen erkennen. Das beruhigt ihn, zeigt das doch, dass sie zumindest nicht aus der Region sind. Es ist bereits das dritte Mal innerhalb von zwei Monaten, dass in allen Briefkästen der 1.300 Bewohner von Halbe Flugblätter steckten. „Liebe Einwohner der Ortschaft Halbe“ ist der Zettel übertitelt. Darin entschuldigt sich ein so genannter Freundeskreis Halbe für die Umstände, die er den Bewohnern am Vorabend des Volkstrauertags verursacht, erklärt, dass er Verständnis habe, wenn sie nicht seine Meinung teilen, und dass er ja auch nur auf seine Art der vielen Toten gedenken wolle. „Heldengedenken“.

Dass Halbe zum zentralen Wallfahrtsort nicht nur für Neonazis aus Deutschland, sondern aus ganz Europa geworden ist, hat noch keine lange Tradition. Im Zuge des Einheitsrauschs zogen am Volkstrauertag 1990 über 600 Neonazis zum ersten Mal durch Halbe. Mit Fackeln und Trommeln marschierten sie die Grabreihen ab, legten Kränze mit schwarzen Bändern nieder, auf denen stand: „11. SS-Panzerkorps“, „5. SS-Gebirgscorps“, „Hitlerjugend“. Erschreckt von dem hohen Aufgebot, verbot die Versammlungsbehörde ab 1991 den Aufmarsch mit der Begründung, der Volkstrauertag sei nicht zum Marschieren da. Zwölf Jahre später verlegten die Rechtsextremisten ihre „Heldengedenkfeier“ um einen Tag nach vorn. Das Gericht gab dem Hamburger Neonazi Christian Worch Recht, der den Aufmarsch angemeldet hatte. 650 Rechtsextremisten kamen 2003, vergangenes Jahr waren es 1.600. Für dieses Jahr erwarten die Sicherheitsbehörden eine weitere Verdopplung. Denn mit dem im März 2005 verschärften Versammlungsrecht lassen sich zwar Aufzüge am Holocaust-Mahnmal oder am Grab des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß im bayerischen Wunsiedel verbieten, Halbe aber habe nicht den im Gesetz geforderten Symbolcharakter, heißt es von der brandenburgischen Innenverwaltung. Auf dem Soldatenfriedhof lägen keine wirklichen NS-Größen.

Es geht ganz allein um die Lindenstraße, sagt Bürgermeister Schnieke. Am Ortseingang der Lindenstraße führt er ein kleines Reisebüro. Er ist Mitinitiator des „Aktionsbündnisses gegen Heldengedenken und Naziaufmärsche in Halbe“, eines parteiübergreifenden Bündnisses aus PDS, SPD und unzähligen anderen Initiativen und Vereinen. „Wer am Samstag auf der Lindenstraße steht, der hat gewonnen“, sagt er.

Halbe lässt sich leicht in zwei Teile abriegeln. Mitten durch den Ort verlaufen Schienen. Auf der einen Seite der Bahnhof, ein paar Häuser, von denen der Putz abbröckelt, und viel Brachland. Auf der anderen Seite der sanierte Dorfkern, gepflegte Alleen, Wald und eben die Lindenstraße, die direkt zum Soldatenfriedhof führt. Bisher galt in Brandenburg die Devise: Wer als Erster anmeldet, darf demonstrieren. Daraufhin haben Worch und sein eifriger Helfer Lars Jacobs für 20 Jahre im Voraus Demonstrationen für alle Samstage vor dem Volkstrauertag angemeldet. Am 18. Juli entschied die Versammlungsbehörde dann doch anders. 100 Worch-Anhänger wollten an diesem Sommertag „probemarschieren“. Viermal so viele demonstrierten gegen sie. Die Neonazis mussten mit der ungeliebten Seite des Dorfs vorlieb nehmen. Ihre Kundgebung am Friedhof fiel aus.

„Für uns war das eine Zäsur“, sagt Arnold Mosshammer, gebürtiger Halber. Auch er sitzt im Aktionsbündnis. Als Zwölfjähriger hatte er die Kesselschlacht im Keller seines Elternhauses erlebt. Vier Tage und fünf Nächte lang knallte und donnerte es über seinem Kopf. Als er sich ans Tageslicht traute, war das ganze Dorf voll von zertrümmerten Helmen und blutüberströmten Leichen. „Wir hatten ja gar keine Zeit, über das Entsetzen nachzudenken“, erinnert sich der heute 71-Jährige. Der April 1945 war warm. Um der Seuchengefahr vorzubeugen, mussten die Toten schnell begraben werden. Noch heute finden sich beim Umbuddeln des Vorgartens verrostete Patronenhülsen, zerfledderte Schulterstücke von Soldatenuniformen und bräunlich gefärbte Schädelknochen.

„Wenn wir mehr Demonstranten auf die Straße bringen als die Neonazis, dann gehört der Waldfriedhof uns“, sagt Mosshammer. Rückendeckung bekommt das Aktionsbündnis dieses Mal vom Brandenburger Landtag, der eine eigene Gedenkveranstaltung organisiert hat, auf der auch Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) sprechen will.

„Wenn wir mehr auf die Straße bringen, gehört der Waldfriedhof uns“

Doch das wiederum hat das Antifabündnis Berlin/Brandenburg verärgert. Die Antifas waren 2003 die Ersten, die gegen den Naziaufmarsch mobilisiert hatten. Dieses Jahr jedoch bleibt ein Großteil von ihnen weg. Denn an der Gedenkveranstaltung nimmt auch der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ (VDK) teil. Das Motto der VDK-Veranstaltung lautet: „Die Toten mahnen, für den Frieden zu leben“. Die Nazis rufen „zum Gedenken an die unsterblichen, heldenhaft kämpfenden deutschen Soldaten“ auf. Damit reihe sich das vorgeblich gegen rechts initiierte Bündnis in das Trauern um Wehrmachtsangehörige ein, dass auch von Soldatenverbänden und auch den Neonazis betrieben wird, so ein Sprecher dieses linksradikalen Bündnisses. Eine „adäquate Gegenveranstaltung“ sei damit nicht mehr möglich, schreiben die Gruppen in einer gemeinsamen Erklärung. Die Antifas wollen stattdessen am gleichen Tag unter dem Motto „NS-Verherrlichung stoppen“ 15 Kilometer weiter in Königs Wusterhausen gegen die Neonazi-Marke Thor Steinar demonstrieren. Die Firma Mediatex, die diese Marke vertreibt, hat dort ihren Hauptsitz. Nur einige Antifas der Gruppe „Fels“ (Für eine linke Strömung) will in Halbe mit einem Stand vertreten sein.

Schnieke ist froh darüber, dass „diese Linksextremisten“ wegbleiben. „Sie machen uns alles kaputt“, sagt er. Andrea Nienhuisen vom Mobilen Beratungsteam Brandenburg, die das Aktionsbündnis berät, drückt es etwas vorsichtiger aus. „Zumindest sind sie kein großer Verlust“, sagt sie. Über eine Aktion habe sie sich besonders geärgert. Am 9. Mai vor einem Jahr waren 60 Antifas aus Berlin in Bussen angereist, seien in „schwarzer Montur“ durchs Dorf gezogen, hätten die ganze Bevölkerung als Nazis beschimpft und seien dann wieder abgereist. Die Dorfbewohner hätten ängstlich hinter den Gardinen gestanden, erzählt Nienhuisen. Damit werde doch nichts erreicht.

In einem Dorf dieser Größe kenne man alle seine „Pappenheimer“, sagt Schnieke. Drei oder vier junge Männer, die mit rechtsextremem Gedankengut vielleicht sympathisieren würden und am Samstag vielleicht mal neugierig aus dem Fenster schauen. Aber selbst beim Aufmarsch mitmischen würden sie nicht, versichert Schnieke: „Dazu fehlt ihnen der Mumm.“

Das Dorf wirkt an diesem sonnigen Novembernachmittag idyllisch. Das gelbe und rote Laub ist noch nicht von den Bäumen abgefallen. Ein Streifenwagen am Friedhofseingang – sonst deutet nichts darauf hin, dass Brandenburg der größte Nazi-Aufmarsch der Nachkriegszeit bevorsteht.