Epische Nachsaison

Roman der Blicke und der Schmerzen, und einer über die glitzernde, ephemere Welt der Seebäder: Sarah Halls „Der Elektrische Michelangelo“

Sarah Hall will ihren Lesern unter die Haut gehen. Das klingt, eingedenk der Tatsache, dass ihr neuer Roman „Der Elektrische Michelangelo“ von einem Tätowierkünstler handelt, wie ein gar zu offensichtliches Wortspiel, beschreibt aber genau die Intensität ihres Schreibens. So wie die Nadel des Tätowierers ihre Tinte nicht auf die Oberfläche setzt, sondern darunter, um einen länger anhaltenden Effekt zu erzielen, so gräbt Hall, deren Roman für den Booker-Preis nominiert wurde, mit poetischer Sprache und großer Beschreibungskraft ihre Bilder in das Bewusstsein des Lesers, wo sie lange nachwirken. Das kann, ebenso wie beim Tätowieren, ein langwieriger und schmerzhafter Prozess sein.

Der titelgebende Elektrische Michelangelo ist Cyril Parks, der Anfang des 20. Jahrhunderts im nordwestenglischen Seebad Morecambe Bay aufwächst. Hall erzählt die Geschichte seines Lebens als Abfolge von Bildern, Stimmungen und vor allem Menschen, denen Cy begegnet. Am Anfang steht seine Mutter Reeda, die ein Hotel für Tuberkulosekranke führt und hinter verschlossenen Türen Abtreibungen vornimmt. Als Heranwachsender trifft er Eliot Riley, den ebenso trunk- wie streitsüchtigen Tätowiermeister, bei dem Cy nach dem Tod der Mutter sein zu dieser Zeit noch zwielichtiges Metier erlernt.

Riley, ein denkbar schlechter Ersatz für den auf See verschollenen Vater, macht aus ihm einen Mann und hält ihn doch emotional klein. Erst als er sich zu Tode gesoffen hat, geht Cy seinen eigenen Weg, und zwar nach New York, direkt zum damals größten Vergnügungspark der Welt, nach Coney Island mit seinem Bestiarium der Außenseiter und Randgestalten.

Halls Coney Island ist vor allem ein Ort des Sehens, des Voyeurismus, denn „Der Elektrische Michelangelo“ ist auch ein Roman der Blicke. Genau wie beim Tätowieren beziehungsweise Schreiben versucht auch der Blick, die Oberfläche zu durchdringen, zu den Tiefenschichten vorzudringen. Das beginnt mit dem angewidert-faszinierten Blick des kleinen Cy auf den blutigen Auswurf der Patienten im Hotel seiner Mutter, in dem der Junge in einer plötzlichen Epiphanie Bilder entdeckt, die direkt zu ihm sprechen. Und es endet mit dem Tattoo der Zirkuskünstlerin Grace, das den auf- und eindringlichen Blick der Schaulustigen mit Hilfe unzähliger Augen zurückspiegelt. Indem Grace damit ihren Körper dem männlichen Blick entzieht, provoziert sie eine Katastrophe, die ihr und Cys Leben verändern und in fast alttestamentarischer Wucht ein Paar Augen kosten wird.

Schmerz hält dabei den voyeuristischen Blick und das Tätowieren zusammen, Schmerz verleiht den eingeritzten Bildern ihren Echtheitsanspruch, und Schmerz inklusive Untergang sind das höchste Spektakel für die Schaulustigen. So gerne der Vergnügungspalast am Strand von Morecambe Bay besucht wird, die größte Menge zieht er an, als er nach einem Kurzschluss in Flammen aufgeht, und der letzte große Auftritt der Zirkuselefantin Lulu, nachdem sie versehentlich einen Menschen zu Tode getrampelt hat, ist ihre Exekution.

Das Schwelgen in und das Meditieren über den Schmerz werden in „Der Elektrische Michelangelo“ balanciert durch einen poetischen Ton, der sich zu großen Teil aus der melancholischen Nostalgie speist, die untrennbar mit dem historischen Sujet des Romans verbunden ist.

Von einem Standpunkt der epischen Nachsaison aus beschreibt Hall mit den beiden Seebädern in England und Amerika eine so glitzernde wie ephemere Welt, die wie eine Welle sich nur zu ganzer Größe aufschäumt, weil sie sich der Küste und damit ihrem Ende nähert. Der Charme und die Anziehungskraft von Morecambe Bay ist längst verblasst, und der wilde Karneval von Coney Island ist genauso verglüht wie die 20.000 Glühbirnen, die dort zu guten Zeiten angeblich pro Tag durchbrannten. Der Roman weiß das von Anfang an, und er leistet auf eindringliche Weise das, was nicht nur ein historischer Roman leisten sollte, indem er uns in detaillierten Bildern noch einmal einen Blick auf eine untergegangene Welt erhaschen lässt. SEBASTIAN DOMSCH

Sarah Hall: „Der Elektrische Michelangelo“. Liebeskind, München 2005, 420 S., 22 Euro