Erste Lockerungsübung

Die große Koalition steht. SPD und Union tauschen Kündigungsschutz gegen Reichensteuer

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF
UND ULRIKE WINKELMANN

Ihre ersten Worte widmen die großen Koalitionäre sich selbst. Bevor die Chefs der neuen Regierungsparteien ihre Einigung verkünden und erklären, erinnern sie noch einmal an ihre gegenseitigen Berührungsängste, die sie überwinden mussten. „Wir waren alle nicht vorbereitet auf die große Koalition“, sagt Noch-SPD-Parteichef Franz Müntefering. Auch Angela Merkel, die designierte Kanzlerin, spricht als allererstes von dem harten Wahlkampf, den man noch vor kurzem gegeneinander führte. Beide klingen so, als könnten sie es selbst kaum glauben, wie glatt und schnell am Ende alles ging.

Keine Nachtsitzung, keine letzten Drohgebärden – schon am frühen Abend sind die Verhandlungen zu Ende, der Vertrag steht, und Merkel verkündet feierlich, „nach 39 Jahren politischer Gegnerschaft“ wollten Union und SPD „in gemeinsamer Verantwortung das Land voranbringen“. Mit ersten Lockerungsübungen, nicht nur beim Kündigungsschutz: Die Verhandlungen hätten ihr „Spaß gemacht“, sagt Merkel und vergisst auch nicht, wie in den Medien so oft gefordert, ausgiebig zu lächeln.

Die Feindseligkeiten sind endgültig eingestellt. In der letzten Sitzung hatte Gerhard Schröder seiner Nachfolgerin „von Herzen alles Gute gewünscht“. Schröder gibt sich schon ganz als Privatmann. Er werde ab nächster Woche nur noch „in meinem eigenen Garten graben“, sagt er bei der Grundsteinlegung einer chinesischen Kultureinrichtung.

Merkel wählt für ihre Regierung erneut den Begriff „Koalition der neuen Möglichkeiten“, die nun in ihrem Vertrag „nicht nur Formelkompromisse“ gefunden habe. „Wir haben uns und den Bürgerinnen und Bürgern nichts geschenkt“ und „wollen jetzt ehrlich und redlich miteinander beginnen“, sagt Merkel.

Müntefering ergänzt, die „zwischenmenschliche Beziehung“ habe sich in den letzten Wochen gut entwickelt, es gelte nun, bei der weiteren Diskussion und Umsetzung der Vertragsinhalte nicht nur darauf zu schauen, wo SPD oder Union sich durchgesetzt hätten bzw., in Münteferings Worten, „nicht abzuzählen, wo rote und schwarze Kerzen hinterm Fenster stehen“.

Müntefering beschreibt das kommende Jahr 2006 als „wichtiges Jahr“, in dessen erster Hälfte sich die Koalitionäre um die bislang allzu strittigen Themen kümmern wollen: Gesundheit und Pflege sowie Kombi- und Mindestlöhne.

Was nun genau aber in ihrem Vertrag steht, wollen die Koalitionschefs erst heute im Detail vorstellen. Doch ist gestern schon das meiste von dem durchgesickert, was die Verhandler in der Schlussrunde gegeneinander getauscht hatten.

Die von der SPD geforderte Reichensteuer wird tatsächlich kommen – zur Hälfte. Das heißt, dass Privatpersonen mit einem laufenden Einkommen von 250.000 Euro jährlich (Single) beziehungsweise 500.000 Euro (Gatten) einen Spitzensteuersatz von 45 und nicht von 42 Prozent zahlen sollen. Für Kleinunternehmen, also Personengesellschaften, soll dies nicht gelten. Dies verringert natürlich auch die Einnahmen, doch wird die SPD argumentiert haben, dass sie ganz ohne Reichensteuer die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent (siehe unten) unmöglich über ihren Parteitag ab Montag gepeitscht bekäme.

Als weiterer kleiner SPD-Erfolg kann die Erhöhung des Arbeitslosengelds II im Osten auf den Westsatz von 345 Euro gezählt werden. Auch soll es Müntefering im letzten Augenblick gelungen sein, Gesundheitsministerin Ulla Schmidt ihre Einnahmen aus der Tabaksteuer zu sichern. Diese hätte sich sonst Finanzminister Peer Steinbrück (ebenfalls SPD) geangelt – und hätte so die Krankenkassenbeiträge zusätzlich unter Druck, sprich zum Steigen gebracht.

Für die Rente wurde genau dies gestern allerdings bereits bestätigt: 2007 werden die Beiträge zur Rentenversicherung voraussichtlich von 19,5 auf 19,9 Prozent steigen, hieß es – womit sich die Rechnung der Union, unbedingt die Lohnnebenkosten zu drücken, weitgehend bereits erübrigt hätte. Die Union hat sich nicht nur mit der Mehrwertsteuer, die in die Haushaltlöcher und die Arbeitslosenversicherung gesteckt werden soll, durchgesetzt, sondern auch beim Kündigungsschutz. Der Atomausstieg bleibt vorläufig wie gehabt, ebenso die Homoehe.