Eine Frage des Respekts

Was ist da in der Banlieue eigentlich geschehen: Intifada in Eurabia oder klassische Sozialrevolte? Nichts von beidem. Erst die soziale und kulturelle Deklassierung zusammen etablieren einen brisanten Demütigungskreislauf. Das Leben im Ghetto ist gekennzeichnet durch die Ballung von Bedrängnis

VON ROBERT MISIK

Unsouverän ist, wer den Ausnahmezustand verfügt. Mag es in den französischen Vorstädten auch zu einer Beruhigung gekommen sein – wenn es einen „Sieger“ im Aufruhr gibt, der Innenminister ist es sicher nicht. Im frühmodernen oder halbautoritären Staat war der Notstand noch ein Mittel, die gefährlichen Klassen oder die organisierte Opposition als Feind zu markieren und niederzukartäschen (oder, um Sarkozy zu variieren: „auszukärchern“). In der postmodernen Mediendemokratie zieht das nicht mehr. Nicht einmal die CRS-Polizisten können heute Aufwiegler einfach erschlagen oder in der Seine ertränken, wie noch zu de Gaulles Zeiten, das gäbe eine schlechte Presse. Heute heißt den Notstand auszurufen eine Schlagzeile zu produzieren, den Aufmerksamkeitspegel noch ein Stück weiter zu heben. Und Aufmerksamkeit ist genau das, worum die Kids in der Banlieue rangen. Der Ausnahmezustand ist somit eine Chiffre für Respekt – Respekt, dies zuerst, ist es ja, was die brandschatzenden Einwandererkids von Paris einforderten.

Respekt ist eine zentrale Kategorie in den öffentlichen Diskursen geworden – weil mit dem Auftauchen neuer sozialer Unterklassen Deklassierte entstanden sind, denen es nicht nur an Gütern und Lebenschancen, sondern auch an Respekt mangelt. Die Folgen von pekuniärem Mangel sind nichts gegenüber denen des Respektmangels. Ersterer hat im Extremfall elementare Not als Resultat, Letzterer Wut, Zorn, Rachsucht, das Begehren, es denen einmal heimzuzahlen. „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ heißt nicht zufällig ein kluges Buch von Richard Sennet. Aber so zentral Respekt geworden ist, so ist er doch eine seltsam vage Kategorie. Die Unklarheit, worum genau es sich bei dem französischen Aufruhr eigentlich handelte, hat darin seine Ursache.

Erstaunlich, wie sich die Diskurse in den vergangenen Wochen verändert haben. Zunächst wurde der Aufstand reflexartig als ethnischer Konflikt interpretiert. Den Vogel schoss dabei – man muss sagen: wieder einmal – der Spiegel ab. Der schwadronierte von einer „Intifada“ vor Paris und nützte die Gelegenheit zum bekannten Refrain: „Der Traum eines friedlichen Multikulti-Miteinanders zerplatzt.“ Doch nach und nach verschob sich die Diskurslage. Immer häufiger ist nun zu lesen, in den Vorstädten entlade sich die „blinde Wut“ deklassierter Einwandererkinder, die einen französischen Pass haben, französisch denken, französisch fühlen. Sie sprechen gut Französisch, haben eine französische Schule besucht und die republikanischen Werte von Gleichheit und Brüderlichkeit verinnerlicht. „Das nimmt die Vorstadtjugend ernster, als es vielen Franzosen recht ist“, konstatiert die aktuelle Zeit.

Der Konflikt wird mehr und mehr als sozialer Konflikt gesehen, der Migrationsaspekt tritt nach und nach in den Hintergrund. In den Vordergrund tritt, dass auf die Jugendlichen der Vorstädten geballt zutrifft, was zu einem Paradigma der postfordistischen Industriegesellschaften wird: Es entsteht eine Unterklasse von Aussortierten, die weder eine Chance am Arbeitsmarkt haben noch für die Reichtumsproduktion benötigt werden. Wer dreizehn, vierzehn, fünfzehn Jahre alt ist, bricht die Schule ab wie jeder andere im Viertel auch und stößt zu den Trauben der „überflüssigen Menschen“, die sich mit Sozialhilfe, Gelegenheitsjobs, Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Überfällen und kleinen Einbrüchen über Wasser halten.

Gewiss ist die Interpretation des Aufruhrs als sozialer Konflikt näher an der Wahrheit als das ewige Anti-Multikulti-Gedöhns oder gar die Versuche, einen Religionskrieg herbeizufantasieren. Aber selbstverständlich muss, wer die Vorgänge verstehen will, die soziale Deklassierung und die ethnisch-kulturelle zusammen denken. Die soziale Hierarchisierung geht einher mit dem Postulat kultureller Hierarchien – auf die die Deklassierten wiederum reagieren.

Es handelt sich schließlich bei ihnen um Kinder von Einwanderern, die nicht nur ökonomische Chancenarmut erfahren, sondern auch von der Mehrheitsgesellschaft der eingesessenen Franzosen als „Andere“ behandelt werden. Dies führt zur Verfestigung von kulturellen Differenzen, zur Abkapselung in der Community, oder, wie es heute so schön heißt, in der „Parallelgesellschaft“. Schon hier sehen wir, dass sowohl eine Interpretation, die allen Ton auf die soziale Deklassierung, wie auch jene, die allen Ton auf die kulturelle legt, zu kurz greift. Elementare Not führt nicht notwendigerweise zu dem Gefühl, die Position des „Menschen zweiter Klasse“ nicht wieder hinter sich lassen zu können; die Abkapselung in Paralleluniversen hat gesellschaftlich wenig Brisanz, solange sie nicht mit ökonomischer Perspektivlosigkeit einhergeht. Erst die Kombination von beidem ist wirklich explosiv.

Darum ist es durchaus folgerichtig, wenn für die Siedlungen in der Banlieue nun der Begriff Ghetto allgemein Gebrauch findet. Denn spätestens seit den Sechzigerjahren steht Ghetto für soziale und kulturelle Marginalisierung. Weder würden wir bunte Viertel wie Chinatown oder Little Odessa als Ghetto bezeichnen – in denen konzentrieren sich kulturell segregierte Communities, die nicht unbedingt Elendsviertel sind –, noch würden wir Berlin-Marzahn oder Teile von -Friedrichshain als Ghetto identifizieren, wo sich zwar sichtbare Chancenarmut ballt, wo aber die kulturelle Marginalisierung fehlt, die das Ghetto prägt.

Das „Ghetto“ ist durch die Ballung vielfacher Bedrängnis gekennzeichnet, durch alltägliche Beleidigungen. Es ist eine gewiss unerträgliche Tatsache, die sich auch nicht rechtfertigen lässt, wenn sich ein Hartz-IV-Empfänger wegen des Umstands, dass er Transferleistungen von der öffentlichen Hand erhält, auf dem Arbeitsamt demütigen lassen muss; aber er wird von einem Menschen gedemütigt, von dem er nicht behaupten würde, dass ihn kulturell ein Graben von ihm trennt. Die Demütigungserfahrungen eines Jungen mit dunklem Teint und fremdländischem Aussehen, der sich in seinem eigenen Wohnviertel zwei-, dreimal die Woche völlig grundlos von Polizeipatrouillen kontrollieren lassen muss, sind von einer ganz anderen Art. Sie etablieren eine soziale Distanz, die kaum geringer – ja, in gewisser Weise noch größer – ist, als, beispielsweise, die zwischen einem Broker in der Londoner City und einem australischen Aborigine.

Es ist erst diese Distanz- und Gewaltkonstellation, die einen Prozess am Leben hält, in dem die jungen Einwandererkinder zu „den Anderen“ gemacht werden und sich selbst zu „den Anderen“ machen. Für sie ist die Ethnisierung ihrer sozialen Unterdrückung eine – wenngleich völlig unnütze und selbstviktimisierende – Operation zur Selbstbehauptung, für die Mehrheitsgesellschaft ist sie, egal ob man aus der Ober- oder selber aus den Unterklassen kommt, ein Mechanismus, sich das Elend vom Leib zu halten. Indem man soziale Konflikte nur als ethnische oder gar religiöse definiert, werden sie zu einer „Unterart von Naturkatastrophen“ (Slavoj Zizek), also zu Beben, für die man nichts kann. Schließlich ist auch die Existenz einer Schattenarmee überflüssiger Menschen leichter zu akzeptieren, wenn dafür die islamische Kultur, der Patriarchismus unter arabischen Männern etc. verantwortlich gemacht werden können.

Erst dieses Gefühl, mit alldem nichts zu tun zu haben, führt zu einer Ignoranz, die sich in der Wortwahl dekuvriert. Wie selbstverständlich führten in den vergangenen Tagen selbst linke und linksliberale Kommentatoren Begriffe wie Randalierer und sinnlose Zerstörung im Mund, Vokabeln, die sie sich beim Radau von Atomkraftgegnern und Hausbesetzern selbstverständlich verbitten würden. Zu Wohlstand gekommen, erscheint ihnen das Abfackeln von Autos, sofern es keinen höheren Zwecken dient, als barbarischer Akt. Der „nur“ Elende, der kulturell Nahe, der darf vielleicht auf Verständnis rechnen, ebenso der Idealist, dem das Herz übergeht und der zu Pflastersteinen greift – der kulturell Ferne darf das nicht. Letzterer versteht die Botschaft und hat eine Demütigungserfahrung mehr. Dafür hat er die Anerkennung, die ihm die Verhängung des Ausnahmezustands verschafft. Immerhin wird er jetzt gefürchtet, und das ist auch eine Art von Achtung.

Er hat nicht nur keinen Job und keinen Ausbildungsplatz, er weiß auch, dass er der Andere einer hegemonialen Kultur ist, die zunehmend eine globale ist. Ja, eigentlich hat nur er das Manko zu tragen, eine Kultur zu sein, denn die hegemoniale Kultur ist ja keine Kultur im engen Sinn, sondern, nach einem schönen Wort von Stuart Hall, die „Kultur, die über den Kulturen“ steht, also der Partikularismus, der gewonnen und sich universalisiert hat.

In einer gesellschaftlichen Lage, in der Respekt zu einem schwindenden Mangelgut wird, ist der sozial und kulturell Deklassierte gewiss nicht der Einzige, dem Demütigungen widerfahren – aber er ist derjenige, auf den sich der gesamte Vorrat an Respektlosigkeit konzentriert.