Die Zeit der Unschuld ist vorbei

HIV hat seinen Schrecken verloren – aber nicht seine Schrecklichkeit. Anlässlich der bevorstehenden Aids-Gala verweisen Aids-Aktivisten auf die steigenden Infektionszahlen in allen Risikogruppen

von WALTRAUD SCHWAB

Die Zahl der gemeldeten HIV-Infektionen steigt weiter. Auf diese beunruhigende Tatsache verwiesen die Organisatoren der jährlichen Aids-Gala auf ihrer gestrigen Pressekonferenz im Theater des Westens. Wie das Robert-Koch-Institut bestätigt, liegt die Zahl der im ersten Halbjahr 2005 bundesweit neu gemeldeten Infizierungen mit 1.164 um 20 Prozent über den Vorjahreszahlen. Auch die Statistik für Berlin weist in diese Richtung.

Einen Tiefstand hatten die HIV-Erstdiagnose-Zahlen im Jahr 2001 erreicht. Damals waren es im gesamten Jahr bundesweit 1.425 Fälle, seit 2004 sind es wieder über 2.000 Neuinfizierte. Seit Jahren, so die Aids-Aktivisten, werde auf diese steigende Tendenz hingewiesen und vor Sorglosigkeit im Umgang mit der Immunschwäche gewarnt.

Die Infektionen nehmen vor allem bei Männern, die Sex mit Männern haben – nicht ausschließlich Homosexuellen – zu. Aber auch die Zahl der Infektionen durch heterosexuelle Kontakte steigt. Vor allem in der Altersgruppe der Twens sei die Zunahme Besorgnis erregend, sagt Kai-Uwe Merkenich, Geschäftsführer der Berliner Aidshilfe.

Männer mit gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten bleiben dennoch die größte Betroffenengruppe. „Aus Wiederholungsbefragungen wissen wir, dass die Zahl der Leute, die ungeschützten Analverkehr mit Partnern haben, deren Serostatus ungewiss ist, sukzessive angestiegen ist“, erläutert Uli Marcus, stellvertretender Leiter des Fachgebiets HIV und sexuell übertragbare Krankheiten im Berliner Robert-Koch-Institut. Hinzu komme, dass diejenigen, die ungeschützten Analverkehr ausübten, oft auch hohe Partnerzahlen aufwiesen. Psychologisch deute dies auf eine verminderte Risikowahrnehmung hin. HIV werde nicht mehr als so schwer wiegend betrachtet.

Gegen diesen Trend laufen Aids- und Schwulenberatungen Sturm. In Berlin wurde vor dreieinhalb Jahren das Projekt „ManCheck“ initiiert. Dessen Mitarbeiter gehen wie Streetworker in die Szene, um aufzuklären. „Allerdings kann man mit zweieinhalb Projektstellen kaum die 150 Orte mit all ihren Vorlieben – Leder- und Fetischszene, Drogen und Partyszene, Parks und versteckte Plätze – abdecken“, bedauert Marcel de Groot von der Schwulenberatung. Auch können die steigenden Zahlen eigentlich nicht mit fehlendem Wissen um die Gefährlichkeit von HIV erklärt werden.

Wie aber dann? Eine Erklärung, sagt de Groot, sei eine gewisse Kamikazehaltung. Bereits Vierzigjährige sagten sich: „Ob ich 60 oder 80 werde, ist egal.“ Eine andere Erklärung sei, dass sich schon länger Infizierte erst jetzt testen lassen. Eine dritte, dass die Pharmaindustrie die Aidsmedikamente verharmlosend und lifestylekonform bewerbe. „Wir stehen vor der Herausforderung, die Prävention neu zu justieren“, sagt Kai-Uwe Merkenich von der Aidshilfe.

Aids-Gala am 21. November, Karten: 47 99 74 77. Hotline zu HIV: 1 94 11