„Der Haushalt wäre auch für uns brutal geworden“

Grünen-Fraktionschefin Künast wirft den Koalitionären Wahlbetrug vor. Knappe Mittel würden mit Elterngeld auch noch falsch verwendet

taz: Frau Künast, die Grünen erlebten zweimal, dass sich die SPD nicht an den Koalitionsvertrag hielt: Die größten Reformen zog die Regierung ohne Verabredung durch. Welche Chancen geben Sie dem schwarz-roten Vertrag?

Renate Künast: Da bei diesem Vertrag kaum Reformen drin sind, erübrigt es sich fast, darüber zu philosophieren, wo diese noch herkommen sollen. Mit den Steuererhöhungen ist allerdings durchaus zu rechnen. Diese kommen einem doppelten Wahlbetrug gleich: Weder SPD noch Union halten sich an ihre Versprechen.

Ist es nicht etwas unfair, einen notwendigen Kompromiss als Betrug zu bezeichnen?

Die Mehrwertsteuer war ein konträrer Kernpunkt beider wahlkämpfender Parteien – und weder zum Grad der Erhöhung noch über die Verwendung ist der Kompromiss klug und gelungen. Das Geld hätte zum Beispiel in den Niedriglohnsektor gehen können, um Geringqualifizierte am Arbeitsmarkt zu unterstützen, oder in Kinder und Bildung. Doch zu den Geringqualifizierten möchte man nun erst nächstes Jahr kommen, und der Schwerpunkt Bildung und Kinder wird dank der Föderalismusreform reine Ländersache, also zur Geisel der Ministerpräsidenten.

Das Elterngeld kommt …

Gegen das Elterngeld kann man inhaltlich gar nicht argumentieren, aber angesichts knapper Mittel auch noch nicht dafür sein. Das Geld muss zuerst in die Betreuung gehen, damit Kinder aus finanziell schwachen und Migrantenfamilien nicht mehr mit gesundheitlichen, sprachlichen und motorischen Defiziten in die Grundschule kommen.

Das Elterngeld ist das Steuergeld auch der Schlechtverdienenden, mit dem Besserverdienende ihren Lebensstandard halten können – haben Sie da kein Gerechtigkeitsproblem?

Wir haben die Sache auf dem Grünen Parteitag diskutiert und uns aus finanziellen Gründen dagegen entschieden – weil das Geld erst mal besser für benachteiligte Kinder verwendet würde.

Manche Grüne sagen, das Haushaltsloch jetzt im Herbst wäre auch für die rot-grüne Koalition ein Desaster geworden.

Das wäre das brutalstmögliche Drama geworden, das gebe ich zu – gerade wegen des Theaters im Bundesrat. Und wir hätten dann auch unsere Probleme mit der SPD gehabt. Schließlich hätten wir an anderen Stellen Geld erheben wollen als die: beim Ehegattensplitting, womit der Staat nichts als die Ehe bezahlt, bei den Ausnahmen von der Ökosteuer, bei den grenzüberschreitenden Flügen. Aber deshalb sind wir nicht etwa erleichtert, das nicht mehr erleben zu müssen.

Die Grünen verteidigen jetzt die Steuersenkungen der rotgrünen Ära und geißeln die schwarz-roten Steuererhöhungen. Werden Sie die Verwalter des Agenda-2010-Erbes?

Ich halte nichts davon, die eigene Politik nachträglich grundsätzlich in Frage zu stellen. Allerdings hat die SPD selbst jetzt größte Schwierigkeiten, zu ihrer eigenen Politik zu stehen. Beide Volksparteien werden mit diesem Vertrag noch Probleme bekommen, ihren Leuten zu erzählen, in welche Richtung sie eigentlich wollen.

Der Grüne Volker Beck klagt, Lesben und Schwule kämen nicht im Vertrag vor. Haben Sie damit gerechnet, die SPD werde das grüne Erbe hüten?

Ach, was heißt hier „gerechnet“. Wir haben allerdings geglaubt, dass sich die beiden Parteien deutlicher um die Rechte aller Bevölkerungsgruppen bemühen würden. In der Innenpolitik wird diese Koalition nicht die Vertreterin der Bürgerrechte.

INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN