Matthias der Geduldige

So redet jemand, der in der DDR eine Erfahrung machte: dass über Nacht alles zu Ende sein kann Platzeck ist keiner, der Politik neu erfindet. Er ist Ingenieur. Er versucht, Probleme zu lösen „Er stößt niemanden vor den Kopf. Er brüllt nie ‚Basta!‘ Er kann in andere Stimmungen versetzen“ „Eines weiß ich sicherlich ganz genau: Berufspolitiker werde ich niemals“

VON JENS KÖNIG

Dieser 11. November 1989 ist ein großer Tag für Carola Stabe. Sie fährt, von Potsdam aus kommend, in ihrem himmelblauen Trabant quer durch Berlin, über Zehlendorf, Dahlem, bis nach Schöneberg, in die Potsdamer Straße 130. Aus der grauen DDR mitten hinein in den goldenen Westen! Die junge Frau hat sich Verstärkung mitgenommen. Im Auto neben ihr sitzt ein schwarzhaariger Mann mit Bart.

Zwei Tage zuvor ist die Mauer gefallen. Carola Stabe will in Kreuzberg eine Druckmaschine abholen. Bekannte aus der alternativen Szene in Westberlin haben das Geld dafür gesammelt und die Maschine besorgt. Stabe und ihre Freunde in Potsdam, allesamt organisiert in neuen Oppositionsgruppen wie dem Neuen Forum oder der Grünen Liga, können damit endlich Flugblätter und Plakate herstellen. Als die Frau in dem ehemals besetzten Haus in der „Potze“ ankommt, geraten sie und ihr Begleiter gleich ins „Plenum“ der Hausgemeinschaft. Sie sollen von ihrer Umweltarbeit berichten und von ihrem Kampf gegen den Abriss der Altstadt in Potsdam. Den gut aussehenden jungen Mann neben Carola Stabe, der so interessant erzählen und dabei so charmant lächeln kann, kennt hier in der Runde niemand, aber allen ist er auf Anhieb sympathisch, nicht nur den Frauen. Als sie von ihm wissen wollen, wer er eigentlich sei, antwortet seine Begleiterin für ihn.

„Das ist der, der uns später alle mal regieren wird“, sagt Carola Stabe und lacht. „Darf ich vorstellen: Matthias Platzeck.“

Als die beiden sich in der kühlen Novembernacht wieder auf den Heimweg nach Potsdam machen, steht hinten auf dem Autoanhänger stolz und schwer die Druckmaschine. Der Trabi ächzt unter der Errungenschaft aus der neuen Welt.

Diese Episode aus einer längst vergangenen Zeit klingt natürlich ganz so, als würde sie Matthias Platzecks Lebensgeschichte von ihrem vorläufigen Ende her erzählen. Als sei es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass dieser große, fröhliche Potsdamer Junge auf den Tag genau 16 Jahre später in der „Tagesschau“ auftauchen und Millionen Deutschen verkünden würde, dass sie in Zukunft von einer großen Koalition regiert werden. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, dass dieses Sonntagskind aus dem deutschen Osten, dem in seinem Leben oft die Sonne schien, jetzt einen der härtesten Jobs übernimmt, den das Land zu vergeben hat: die Führung des maroden Tankers SPD.

Matthias Platzeck weiß jedoch am besten, dass nichts, aber auch gar nichts davon in jenem Herbst 1989 absehbar war. Eher hätte Schabowski die Mauer wieder hochgezogen. Als Platzeck durch einen historischen Zufall in die Politik geschleudert wurde, erschrak er und hinterließ einen Satz, der heute nicht mehr zu seinem Leben passt. „Eines weiß ich ganz genau“, sagte er damals, „Berufspolitiker werde ich niemals.“

Am Sonnabendvormittag in der Bundespressekonferenz sitzt Matthias Platzeck also genau da, wo er nie hinwollte: im Berliner Regierungsviertel, nur knapp 500 Meter vom Kanzleramt entfernt, in der allerersten Reihe, dort, wo sich die Berufspolitiker gern im Blitzlichtgewitter der Fotografen sonnen. Neben ihm Müntefering, Merkel, Stoiber. Es ist die erste offizielle Vorstellung der neuen Regierung, und Platzeck, der am Dienstag zum neuen SPD-Chef gewählt werden wird, gehört zu dieser Regierung irgendwie dazu, auch wenn er nicht mit am Kabinettstisch sitzt. Bei diesem Auftritt zeigt er den Hauptstadtjournalisten gleich, worauf sie sich bei ihm in Zukunft einzustellen haben: auf einen fachkundigen Mann, der nicht an großen Theorien, sondern an „nüchterner Analyse“ und „realistischen Lösungen“ interessiert ist. Auf einen Ministerpräsidenten, der die staatsmännische Pose ganz selbstverständlich draufhat, der von „Vertrauen“ und „Zuversicht“ spricht und davon, dass Deutschland ein „stabiles Land“ sei „und ein wunderschönes noch dazu“. Auf einen Ostdeutschen, dem der Westen ein bisschen zu bequem geworden ist, um noch als ein leuchtendes Vorbild durchzugehen.

Aber vor allem lernen die routiniert dreinschauenden Journalisten einen Typen kennen, der im politischen Berlin Mangelware ist: einen, der trotz seiner 51 Jahre und seines Nadelstreifenanzugs mit weißem Hemd immer noch wie ein Student wirkt, fast schon aufreizend lässig, mit Stoppelbart und einem feinen Lächeln im Gesicht. Einen, der sich wenig von den Ritualen der Politik fesseln lässt, der offen ist und ganz unverstellt redet. Als Angela Merkel zwei Plätze neben ihm sich gerade mit einer Frage nach ihrer Richtlinienkompetenz als Kanzlerin herumschlägt und erklärt, dass Helmut Kohl in den acht Jahren, in denen sie unter ihm Ministerin war, das Wort „Richtlinienkompetenz“ nicht ein einziges Mal ausgesprochen hat, da prustet Platzeck plötzlich laut los. Dann fällt er Merkel ins Wort: „Bei Kohl reichte es, wenn er in den Raum kam.“

Dieser Matthias Platzeck, ein „Provinz-Ei“, wie er über sich selbst sagt, wirkt an diesem Sonnabend im Zentrum der Macht überhaupt nicht so, als gehöre er nicht hierher. Dass er das Zeug dazu hat, in der Politik ganz nach oben zu kommen, daran haben im Laufe der Jahre ja offensichtlich so einige geglaubt, nicht nur Carola Stabe an jenem Novemberabend 1989 in der Potsdamer Straße. Als Manfred Stolpe im Jahre 2002 seinen Stuhl als Brandenburger Ministerpräsident freiwillig für seinen Kronprinzen Matthias Platzeck räumte, gab er der Öffentlichkeit eine aufschlussreiche Prognose mit auf den Weg: „Jetzt soll er mal acht bis zehn Jahre Ministerpräsident sein, in maximal zehn Jahren ist er dann Bundeskanzler.“

Als Platzeck ein paar Monate später in der Talkshow von Reinhold Beckmann auf diesen zentnerschweren Satz angesprochen wurde, gab er sich ganz so, wie ihn seine alten Freunde aus Potsdamer Zeiten schon immer kennen: heiter, entspannt, gelassen. „Ich kann mir nicht vorstellen, in die Politik zu gehen und zu sagen: Da will ich hin, und dann rüttele ich am Zaun.“ Als Beckmann erwiderte, bei einem gewissen Gerhard Schröder habe aber genau das geklappt, gab Platzeck zurück: „Ich möchte nicht die Unzähligen kennen, bei denen das nicht geklappt hat und die darüber ganz unglücklich geworden sind.“ Zu viele Pläne würden die Lebensfreude einschränken. Er sei jetzt Ministerpräsident des Landes, das er liebe, das möchte er bleiben. „Alles andere wäre schon unverschämt.“

So redet vielleicht nur jemand, der in der DDR eine Erfahrung machen musste, die im Westen mittlerweile verblasst ist: Dass heute manches anders kommt, als man gestern noch gedacht hat. So etwas brennt sich tief ein. Das lässt einen im Zweifelsfall lieber auf Distanz gehen und den richtigen Augenblick abwarten. Kein Wunder, dass die Machttiere im Westen dafür kein Gespür haben. Als Schröder Platzeck 1998 anbot, als Minister für Aufbau Ost in sein Kabinett zu wechseln, lehnte der frisch gewählte Potsdamer Oberbürgermeister ab. Er bleibe lieber das, was er sei, sagte Platzeck, er stehe bei seinen Wählern im Wort. Der wolle allen Ernstes Dorfbürgermeister werden, höhnte der Kanzler. Als Platzeck sieben Jahre später das Angebot ausschlug, Vizekanzler und Außenminister der großen Koalition zu werden, zeigte Schröder mehr Verständnis. Er habe von Platzeck gelernt, sagte er, dass Ostdeutsche wirklich Nein meinen, wenn sie Nein sagen.

Bei Matthias Platzeck kommt möglicherweise noch eine andere Lektion hinzu: Gelassenheit kann man nicht lernen, sie wächst einem zu, sie kommt aus der Erfahrung des eigenen Lebens. Genau das war es ja, was seine Mitstreiterin Carola Stabe mit ihrem prophetischen Platzeck-Satz vor 16 Jahren sagen wollte: dass hier einer mehr kann als andere, und dass das nicht ohne Grund so ist. Wenn Stabe heute in ihrer kleinen Wohnung im Holländischen Viertel in Potsdam sitzt und Matthias Platzeck im Fernsehen sieht, erkennt sie den „Matze“ von damals sofort wieder. „Er war einfach der Beste von uns allen“, sagt die 50-jährige Frau. „Matthias hatte das meiste Fachwissen, er strahlte eine unglaubliche Ruhe aus, er konnte souverän auftreten. Er war sehr einnehmend. Wenn er mit dir redete, guckte er dir immer in die Augen. Das hatte er alles von zu Hause mitbekommen.“

Solche Leute traf man in der kleingeistigen DDR, wo proletarische Herkunft mehr zählte als individuelle Leistung, nicht an jeder Straßenecke. Matthias Platzeck wusste das. Er hatte es am eigenen Leib erfahren.

Platzeck wird in Potsdam in einem sehr bürgerlichen, etablierten, behüteten Elternhaus groß. Sein Vater ist ein stadtbekannter Hals-Nasen-Ohren-Arzt, streng, bestimmt, aber auch sehr warmherzig. Zu den Machthabern in der DDR hält er Distanz. Seine Mutter entstammt einer Pastorenfamilie. Sie arbeitet als Assistentin zeitweilig in der Praxis ihres Mannes mit. Der Sohn und seine beiden Schwestern haben in dem großen Haus eigene Zimmer. Eine Haushälterin kümmert sich um die Alltagssorgen. Hinterm Haus liegt ein großer Garten, der direkt zu einem See führt. Der kleine Matthias liebt es, mit dem Boot hinaus auf die Brandenburger Seen zu fahren.

Diese Idylle verspricht größeres, als die DDR je bieten kann. „Matthias war immer mehr als die anderen um ihn herum“, sagt Steffen Reiche. „Sie wollten etwas Besonderes darstellen – er war es einfach.“ Reiche ist auch in Potsdam groß geworden. Er war mit Matthias Platzeck früher eng befreundet, er kannte die Familie, der Vater hat ihm 1967 die Mandeln herausgenommen.

Der junge Matthias ist überdurchschnittlich begabt. Ein Einserschüler. Mit 12 Jahren wechselt er auf eine sozialistische Eliteschule im benachbarten Kleinmachnow, spezialisiert auf Mathe und Physik. Sein großer Held ist Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall. Platzeck will auch so hoch hinaus. Er möchte Kosmonaut werden. „Da oben muss es eine andersartige Energie geben, die einen so in den Bann zieht, als sei man willenlos geworden“, wird er 30 Jahre später diesen Berufswunsch erklären.

Platzeck schwärmt für den Sozialismus. Er tritt in die FDJ ein, wird Klassensprecher, ein „Roter“, wie er das selbst nennt, ein „überzeugter Sozialist“. Das ist seine Trotzreaktion auf das konservative, christlich geprägte Elternhaus. Er kommt nicht auf die Idee, den Wehrdienst bei der NVA zu verweigern. Als im August 1968 russische Panzer durch die tschechoslowakische Hauptstadt rollen, weckt ihn sein Vater. „Deine Kommunisten marschieren gerade in Prag ein.“

Während er Mitte der Siebzigerjahre in Ilmenau biomedizinische Kybernetik studiert und danach am Institut für Lufthygiene in Karl-Marx-Stadt arbeitet, wird sein Weltbild schwer beschädigt. 1976 lässt Honecker Biermann ausweisen, 1979 fällt die sowjetische Armee in Afghanistan ein, und an seiner Arbeitsstelle bekommt er mit, wie sehr in seinem Land die Luft verpestet wird.

Ein paar Jahre später ist Matthias Platzeck ein typischer Vertreter der technischen Elite der DDR: fern jeder SED-Propaganda, desillusioniert von der Ineffizienz des Wirtschaftssystems, frustriert angesichts der Borniertheit der Machthaber. Seit 1982 arbeitet er als Abteilungsleiter bei der Hygieneinspektion Potsdam – ein gut bezahlter Nischenjob für einen intelligenten jungen Mann, der mit dem ideologischen Alltagszirkus nichts mehr am Hut hat. Und ein Arbeitsplatz, der einen auf andere, politischere Zeiten offenbar ganz gut vorbereitet: Ein gewisser Günter Nooke, später Fraktionsvize der CDU im Bundestag, sammelt ganz ähnliche Erfahrungen bei der Arbeitshygieneinspektion in Cottbus und ein gewisser Werner Schulz bei der Kreishygieneinspektion in Berlin-Lichtenberg. Schulz, der Grünen-Politiker, erinnert sich: „Als ich 1987 auf Arbeitsuche war und ein Angebot der Hygieneinspektion bekam, holte ich mir Rat bei Matthias Platzeck. Er war mir über einen gemeinsamen Freund vorgestellt worden. Platzeck sagte, ich solle den Job ruhig machen, fügte jedoch hinzu: ‚Das ist keine Wissenschaft, sondern Kanalarbeit.‘ “

Verdreckte Luft, verschmutztes Wasser, Alkoholiker in ihren versifften Wohnungen – Schulz lernt genau wie Platzeck die dunklen Seiten der DDR-Realität kennen. „Hier habe ich meine letzten Illusionen über dieses Land verloren“, sagt er. Schulz engagiert sich in der kirchlichen Friedensarbeit, in der Opposition. Platzeck geht nicht so weit. Er sucht nicht den Konflikt mit dem System. Er will in Potsdam die vom Abriss bedrohte Altstadt retten. Er kämpft darum, geheim gehaltene Umweltdaten öffentlich zu machen. Er gründet 1988 gemeinsam mit Carola Stabe die „Arbeitsgemeinschaft für Umweltschutz und Stadtgestaltung“ (Argus). Die Ökogruppe arbeitet legal, sie ist an den Kulturbund, eine von Honeckers Massenorganisationen, angebunden, was die Stasi freilich nicht daran hindert, die Argus-Leute ins Visier zu nehmen.

Platzeck ist einer der Eifrigsten der Gruppe, sein Adressbuch ist mindestens dreimal so dick wie das der anderen, ständig ist er unterwegs. Auf Versammlungen hält er es nicht länger als eine halbe Stunde aus. Platzecks handfesten Pragmatismus, den später alle an ihm schätzen sollten, lernt Carola Stabe im Februar 1989 auf ganz besondere Weise kennen. Als die beiden ein DDR-weites Netzwerk aller Umweltgruppen des Kulturbundes gründen wollen, wird ihnen das untersagt. „Verbot von ganz oben“, bekommen sie in Potsdam zu hören. Da schnappt sich Platzeck Carola Stabe und fährt mit ihr nach Berlin. Er will herausbekommen, wer „ganz oben“ ist, und das Verbot rückgängig machen. Die beiden kämpfen sich in der Hauptstadt durch alle Instanzen des Kulturbunds, bis sie schließlich bei dessen Chef landen. Er habe nichts verboten, sagt er. Und über ihm sitze nur noch das SED-Zentralkomitee. Platzeck und Stabe also hin zum ZK-Gebäude am Werderschen Markt, wo man auf den Besuch der eigenen Bürger natürlich nicht eingerichtet ist. Den beiden gelingt es trotzdem, in den Besucherraum des ZK vorzudringen. Von dort aus telefonieren sie mit der mächtigen Ursula Ragwitz, der Leiterin der Abteilung Kultur. Sie druckst herum, gibt jedoch immerhin zu, kein Verbot ausgesprochen zu haben. Zufrieden fahren Platzeck und Stabe zurück nach Potsdam. „Ganz oben“ hatte an Autorität verloren. Also gründen sie, wie geplant, ihr landesweites Netzwerk.

Ein paar Monate später liegt die Macht in der DDR auf der Straße. Platzeck gehört zu den Novemberrevolutionären, zu denen, die sich nicht in den harten Jahren der DDR-Opposition verkämpft haben und die jetzt frisch genug sind, diese liegen gelassene Macht von der Straße aufzuheben. Er gründet die Grüne Liga mit, sitzt neben Lothar de Maizière und Gregor Gysi am runden Tisch, rückt im Februar 1990 als Minister in die Modrow-Regierung, wird im Herbst 1990 Umweltminister in Brandenburg, 1998 Oberbürgermeister von Potsdam, 2002 Brandenburger Ministerpräsident, 2005 SPD-Vorsitzender. Und 2009? Jagt er möglicherweise Angela Merkel aus dem Kanzleramt.

Matthias Platzeck legt in nicht einmal 20 Jahren eine atemberaubende politische Karriere hin, ausgerechnet er, der von sich behauptet, „kein Parteimensch“ zu sein. Erst 1995 tritt der bis dahin Parteilose in die SPD ein. Das Auffälligste an seinem Weg nach oben ist, dass scheinbar nichts daran geplant ist, fast so, als sei ihm die Karriere zugestoßen. Das passt zu dem Bild, das er gern von sich zeichnet: ein Mann, der das Leben, den Rotwein und die Frauen liebt. Der seinen Kiez in Potsdam-Babelsberg genauso braucht wie seine Freunde um sich herum. Das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Der Charmeur kann seinen Ehrgeiz und seine Härte ganz gut hinter seiner Fröhlichkeit verstecken.

Die andere Hälfte der Wahrheit kennt keiner so gut wie Rainer Speer. Er ist mit Platzeck befreundet und bekocht ihn gern. Er arbeitet seit über zehn Jahren an Platzecks Seite, erst als Staatssekretär im Umweltministerium, dann als Chef der Staatskanzlei, heute ist er in Potsdam Finanzminister. In der DDR bildeten die beiden eine „sozialistische Hängergemeinschaft“, wie Speer sagt. Platzeck nutzte den gemeinsamen Autoanhänger für den Transport seines Bootes – Speer, der Tischler, fuhr damit Holz durch die Gegend.

Speer ist die graue Eminenz der Brandenburger Politik. Intelligent, durchtrieben, raubeinig, ein Freund klarer Worte. Er ist so etwas wie Platzecks dunkle Seite. Wenn man ihn fragt, wozu Freunde gut sind, antwortet er: „Man kann Geheimnisse teilen.“ Speer weiß alles: ob Platzeck überredet werden musste, Oberbürgermeister von Potsdam zu werden, um sich endlich von seinem Ziehvater Stolpe zu emanzipieren; wie sehr Platzeck bedrängt wurde, im Jahre 2000 den SPD-Landesvorsitz zu übernehmen; ob bei der Übergabe des Ministerpräsidentenjobs an Platzeck sanfter Druck auf den heiligen Landesvater Stolpe vonnöten war. Nichts davon gibt Speer preis. Manchmal lacht er über die Fragen, so laut, dass es durchs ganze Ministerbüro dröhnt. Nach einem Interview mit ihm kann man sein Tonband getrost löschen. Es gibt nur wenige Sätze, die man sich merken muss. Diesen zum Beispiel: „Wenn man sich Platzecks Karriere seit 1990 anschaut, wird man kaum glauben können, er sei blauäugig, naiv oder nur ein Sonnyboy.“

Das ist auch eine Antwort auf die Frage, ob Platzecks ein typischer Ersatzkandidat sei, einer, der immer dann gerufen wird, wenn die Krise groß ist, eine Galionsfigur, die von anderen nach vorn geschoben wird. Nein, niemand kann Platzeck zu etwas überreden, was er nicht will. Nur wenn er mit sich selbst im Reinen ist, ist er wirklich gut, sagen seine Freunde. Sicher, er hat sich in Potsdam ein warmes Nest gebaut. Er, der Teamspieler, umgibt sich gern mit Mitarbeitern, die er seit Jahren kennt und die bedingungslos loyal sind. Aber die Entscheidungen, auch die harten, die trifft der Ministerpräsident schon selbst.

Vor knapp zwei Wochen saß Platzeck zusammen mit Speer beim Italiener in Potsdam zum Mittagessen. Der designierte SPD-Chef grübelte, wen er zu seinem Generalsekretär machen sollte. Nimm Hubertus Heil, sagte Speer, der ist loyal. Zwei Minuten später rief Schröder an. Nimm Heil, sagte er, der ist loyal. Aber Platzeck entschied sich lieber für Sigmar Gabriel, den intelligenten, aber etwas unberechenbaren Niedersachsen. Erst als Gabriel absagte, bot Platzeck Hubertus Heil den Posten an.

Platzeck bringt die Dinge eben auf seine Weise voran. „Er ist durchaus ein Parteimensch“, sagt sein Freund und langjähriger Büroleiter Wieland Eschenburg. „Die Betonung liegt aber auf der zweiten Hälfte des Wortes. Er stößt die Menschen nicht vor den Kopf. Er brüllt nie ‚Basta!‘ “ Seine Mitarbeiter berichten davon, dass ihr Chef es so manches Mal schaffe, sie in ein paar Minuten vom Gegenteil dessen zu überzeugen, was sie ein paar Minuten zuvor noch für richtig gehalten haben. „Er kann Menschen in andere Stimmungen versetzen“, glaubt Klaus Ness, Landesgeschäftsführer der Partei und so etwas wie der intellektuelle Vordenker von Platzecks Politik.

Das hat Matthias Platzeck von seinen beiden großen Vorbildern gelernt, von Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt: Politisch überzeugen kann nur derjenige, der den Menschen zugewandt ist. Das fällt einem, der die Partei nie für seinen sozialen Aufstieg brauchte und sich aus einem bürgerschaftlichen Verantwortungsgefühl heraus engagiert, möglicherweise leichter. In Krisen findet so einer schnell seine Mitte. Nicht zufällig in solchen Situationen lieferte Platzeck seine beiden politischen Meisterstücke ab: Er managte tatkräftig und mitfühlend die Oderflut 1997, und er gewann im September 2004 die Brandenburger Landtagswahl, trotz überall wütender Proteste gegen Hartz IV. Im ganzen Land flogen ihm während des Wahlkampfs Eier und Tomaten um die Ohren, in Städten wie Senftenberg oder Schwedt schlug ihm offener Hass entgegen. Aber Platzeck blieb aufrecht stehen. Er schob die Schirme seiner Sicherheitsleute beiseite und redete sich seine Stimme heiser. Er lobte seine Landsleute für ihre Leistungen in den zurückliegenden Jahren und sagte ihnen gleichzeitig die brutale Wahrheit direkt ins Gesicht: dass Schröders Sozialreformen notwendig sind. So viel finstere Entschlossenheit beeindruckte sogar den Kanzler.

Platzeck ist keiner, der Politik neu erfindet, auch keine sozialdemokratische. Er ist Naturwissenschaftler und Ingenieur. Ein Problemlöser. Ihm hilft das Wissen, dass komplizierte Systeme schnell chaotisch werden können. Wenn etwas nicht klappt, fängt er eben einfach neu an. Als Platzeck das Ministerpräsidentenamt von Stolpe übernommen hatte, räumte er schnell mit der Illusion auf, man müsse nur genügend Geld über dem Land ausschütten, dann würde der Aufschwung schon irgendwann kommen. „Die Nachwendezeit ist vorbei“, sagte er und propagierte fortan eine „Erneuerung aus eigener Kraft“. Stolpe hat er für dessen verfehlte Politik nie offen angegriffen. Platzecks Abschiede werden mit einem Lächeln versüßt.

Am Abend , als der SPD-Vorstand den Brandenburger Ministerpräsidenten zum neuen Heilsbringer der Partei kürt, steht Platzeck im Willy-Brandt-Haus neben Franz Müntefering. Platzeck spricht auf der Pressekonferenz ganz ungeniert davon, dass die SPD wieder eine offene, diskussionsfreudige, selbstkritische Partei werden müsse. Was demnach die Partei unter Müntefering gewesen sein muss, darüber verliert er kein einziges Wort. Aber er hat auch nichts verschwiegen.

Matthias Platzeck schaut freundlich in die Kameras.