Schwarze Kohle, schwarze Komödie

Blutiges Schulgeld: In Li Yangs brillantem kleinem Thriller „Blinder Schacht“ wird ein Familienvater zum Mörder, damit er seine Kinder zu Schule schicken kann. Die Landschaft von Schächten und Kohlegruben Nordchinas wird zum Raum brutalster Geschäftsstrategien, die nur noch Verlierer hervorbringen

VON CLAUDIA LENSSEN

Li Yang, der 1959 geborene und in Beijing als Theaterkind aufgewachsene Filmemacher, hat Studienjahre in Deutschland verbracht, zuletzt an der Medienhochschule in Köln. Nach drei Dokumentarfilmen ist „Blinder Schacht“ sein erster Spielfilm. 2003 wurde die Romanadaption im Wettbewerb der Berlinale gezeigt.

Der lange Weg über den Dokumentarfilm hätte auch zu einem prätentiösen Kunststil führen können, der auf den derzeitigen Asien-Hype spekuliert. Aber dieser kleine, von Li Yang selbst produzierte Film ist ein mit einfachsten Mitteln erzählender Thriller aus einem Milieu, in das sich so schnell kein China-Tourist verirren wird. „Blinder Schacht“ erzählt von zwei Wanderarbeitern, die sich in illegal betriebenen Kohlegruben verdingen. Der jüngere Song (Li Yixiang) und sein Kollege Tang (Wang Shuangbao) leben weit entfernt von ihren Heimatdörfern und sind bepackt mit Bündeln aus jenen karierten Plastiktaschen, die weltweites Kennzeichen von Migranten sind. In der ersten Szene, unten bei der Arbeit in einem der ungesicherten Schächte, wird jedoch klar, dass Song und Tang nicht die Prototypen für ein klassisches Bergarbeiterdrama mit Untertaggewitter sind, sondern zwei Mörder, die eine Schwachstelle des Systems für sich nutzen.

Song und Tang töten Tangs Bruder, der erst kurz zuvor auf Arbeitssuche zu ihnen gestoßen war; sie bringen den Schacht zum Einsturz, entkommen dem angeblichen Unfallort unversehrt und spielen dem Boss ihre Trauer vor, während sie zugleich in einer langen, grandios improvisierten Spielszene eine Entschädigung und ein Schweigegeld von ihm fordern, gegen das sie bereit wären, schriftlich zu versichern, dass der Tod ihres Verwandten nicht auf das Konto mangelnder Sicherheitsvorkehrungen geht. Danach überweisen sie einen Teil des Geldes nach Hause, gehen zu Prostituierten und machen sich – Kette rauchend, übermüdet und immer wieder in Reden verstrickt – erneut auf Arbeitssuche.

Man ahnt, dass auf die erste Tat eine zweite folgen soll. Aus dieser mit Suspense geladenen Perspektive geht man mit den frierenden Schurken auf die Reise durchs graue Hinterland, durchquert gesichtslose Orte und hängt mit ihnen herum, wo sie sich während des Essens aufwärmen. Jede Szene, jede Reiberei zwischen den Männern verdeutlicht ihre Erfahrungen und ihre Herkunft. Song ist ein verbitterter Familienvater, der selbst wegen des fehlenden Schulgeldes keine Bildung genoss und zum Mörder wird, damit seine Kinder lernen können. Tong verkörpert den Prototyp eines habgierigen Menschenverächters, dem jeder Zeitgenosse nur Mittel zum Zweck ist.

Li Yang und der Kameramann Liu Yonghong nutzen das Driften ihrer beiden monströsen Verlierer, um sie wie in einem Dokumentarfilm in ihrer objektiven Welt und deren Zeitmaß zu verorten. In einem Meisterstück neuen realistischen Kinos zeigen sie ein von Schächten durchlöchertes, von Kohlebergen, lehmigen Fahrwegen und primitiven Behausungen geprägtes Land, das im Zeichen brutaler privater Geschäftsstrategien zum rechtlosen Raum geworden ist.

An einem Bahnhof macht sich Tang an einen Jungen heran, in dem er ein mögliches Opfer sieht. Der 16-jährige Yuan (Wang Baoqiang), der wegen fehlenden Schulgeldes von der Schule gewiesen wurde, will seinem verschwundenen Vater nacheifern und sich als Wanderarbeiter verdingen. Er schließt sich den Älteren an und willigt ein, als Songs Neffe aufzutreten. Jetzt wechselt „Blinder Schacht“ in den Ton einer grimmigen schwarzen Komödie, in der Song seine Vatergefühle für den Jungen in Tricks umzumünzen versucht, um seinen Komplizen vom Totschlag abzuhalten. Im Schacht spitzen sich die Dinge noch einmal beängstigend zu, doch dieser brillante kleine Thriller findet ein überraschend lakonisches Ende.

„Blinder Schacht“. Regie: Li Yang. Mit Li Yixiang, Wang Shuangbao u. a., China/ Deutschland 2003, 92 Min.